4. Kapitel

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Manche sagen wenn man träume, verarbeite man ein Trauma. Andere sagen, man träume das, an was man die ganze Zeit denke. Wieder sagen, dass das alles Quatsch sei, dass unsere Fantasie uns etwas in unserem Kopf zusammenspinne.

Bei mir treffen alle drei Behauptungen zu.

In meinen Träumen durchlebte ich immer mehr oder weniger die gleiche Situation. Jedoch wechselte ich immer wieder die Person bzw. die Perspektive.

Ich sah mich um und wusste sofort, wo ich mich befand. Im Auto meiner Eltern. Neben mir saß eine etwas jüngere Version von mir.

Wann seid ihr denn dann heute Abend wieder zurück?", hörte ich mich fragen. Mein Dad drehte sich mit einem Lächeln zu mir um und seine blauen Augen suchten die meinen. „Vermutlich so gegen zehn, wenn wir gut durchkommen, dann vielleicht auch schon um neun." Ich sah mich nicken, ehe wir von unserem Haus wegfuhren. Ohne die Ahnung, dass dies der letzte Moment als Familie war, verabschiedete sich mein jüngeres ich auch wenig später und stieg bei Ruby aus.

Ich dagegen konnte mich nicht bewegen, war an meinen Sitzplatz festgekettet.

So steckte ich also fest und musste zusehen, wie mein Dad den ersten Gang einlegte und weiterfuhr.

Ich sah sie reden, konnte aber nicht verstehen. Sie sahen beide so glücklich aus.

Dann war es, als würde die Zeit vorgespult werden, es war Abend, dunkel und meine Eltern machten sich auf den Heimweg.

Nun wurde mir erst bewusst, was in den kommenden Minuten passieren würde.

Wir fuhren gerade die letzten Meter einer Landstraße, als uns helle Lichter entgegenkamen. „Nein!", schrie ich mit aller Kraft. Verzweifelt versuchte ich von meinem Sitz loszukommen. Vergeblich.

Die Lichter kamen immer näher, allerdings nicht auf der richtigen Straßenseite. Ich bemerkte, wie der Gesichtsausdruck meines Dads von lächelnd und fröhlich auf geschockt und panisch wechselte. Meine Mum schrie etwas, doch wieder konnte ich sie nicht verstehen.Der Lkw kam mit einer wahnsinnigen Geschwindigeit auf uns zu. Das letzte was ich sah, war, wie mein Dad nach der Hand von meiner Mum griff, wie liebevoll er sie mit Tränen in den Augen ansah und mit dem Mund die Wörter „Ich liebe dich" formte.

Verzweifelt schrie ich auf. „Nein! Bitte!" Meine Tränen rannten mir in Sturzbächen über die Wange. Dann prallte der Lkw gegen unser Auto und es wurde alles schwarz.

„NEEEEEINNN"

Schweißgebadet wachte ich auf. Schnell setzte ich mich auf uns versuchte mich zu beruhigen. Es war nur ein Albtraum.

Dann holte mich die Realität ein. Das war kein Traum gewesen, nein, das war die Wahrheit. Und wie jedes Mal, wenn ich einen solchen Albtraum hatte, fing ich an unkontrolliert zu schluchzen und zu weinen. Der Verlust traf mich erneut hart. So hart, dass sich alles in meinem Bauch zusammenzog und ich meinte, keine Luft mehr zu bekommen.

Sonst hatte mir Ruby immer aus dieser Situation geholfen, doch dieses Mal war sie nicht da. Noch ein Mensch weniger in meinem Leben, der mir etwas bedeutet hatte.

„Okay, Grace, hör auf zu flennen, das bringt uns jetzt auch nicht weiter. Ruby ist nicht da. Du musst dir jetzt selbst zu helfen wissen!", herrschte meine innere Stimme mich an.

Und sie hatte recht. Ich dachte nach. Meine Mutter hatte mir früher immer, wenn ich Albträume gehabt hatte eine heiße Schokolade gemacht.

Bevor ich mir noch mehr Gedanken an die Vergangenheit machte, tapste ich in die Küche und bereitete mir, nachdem ich eine Tasse, einen Löffel, Milch und Kakaopulver gefunden hatte, eine heiße Schokolade zu.

Meine Tränen waren getrocknet und meine Augen wahrscheinlich wieder rot und geschwollen. In den letzten Wochen war das mein Normalzustand gewesen.

Da ich jetzt nicht mehr einschlafen würde, schnappte ich mir mein Getränk und ließ mich auf der Couch nieder. Leise stellte ich den Fernseher an und ließ mich einfach berieseln. Einfach nur nicht nachdenken.

Als es dann langsam draußen hell wurde, stellte ich meine Tasse in die Spüle, und ging zurück in mein Zimmer.

Ich wollte nicht, dass Jason und Jake mitbekamen, dass ich solche Albträume hatte, oder dass ich Angst vor dem Schlafen hatte.

Ich legte mich wieder in mein Bett. Von dort aus konnte ich direkt aus dem Fenster sehen, hinter dessen Fensterscheiben langsam die Sonne aufging.

Ich drehte mich auf die Seite und sofort stach mir das Bild von unserem Urlaub in die Augen.

Kaum zu glauben, dass in einem Jahr so viel passieren konnte.

Ein Jahr. 365 Tage.

Von Lachfältchen umrahmt strahlten mich die Augen meiner Eltern an. Dieses Strahlen würde ich so nie wieder sehen.

Ich wusste nicht, wie ich darüber denken sollte, dass ich nicht mit in dem Auto gesessen hatte.

Einerseits war ich froh, dass die letzte Erinnerung, die ich an sie hatte, eine schöne war. Andererseits war der Schmerz zu viel für mich. Wäre ich mitgefahren, hätte ich nicht diese Last zu tragen.

"Dein Bruder dafür aber umso mehr.", warf meine innere Stimme ein.

Und wiedereinmal musste ich ihr Recht geben. Ich hätte mir nie vorstellen können, das alles ohne Beistand durchzustehen. Mein Bruder war immer für mich dagewesen. Hatte immer zu mir gehalten und immer ein offenes Ohr für mich gehabt.

Ich könnte ihn nie im Stich lassen.

Denn er war alles, was ich noch hatte.

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Hier ein neues Kapitel und vielen lieben Dank für 100 Reads. :)

Wie denkt ihr, kommen Träume zustande?
Verarbeiten wir etwas?
Träumen wir das, an das wir die ganze Zeit denken?
Oder ist es ein Zusammengespinne unserer Fantasie?








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