Der Spiegel der Wahrheit

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„Was soll das?", fragte ich ihn verwirrt und machte mich von ihm los.

Er sah plötzlich ernst aus und blickte kurz nach links und nach rechts, ehe er sich zu mir runter blickte und flüsterte: „Ich muss dir etwas zeigen."

Ich runzelte die Stirn. Was sollte das?

„Dann los.", antwortete ich ihm und sah ihn auffordernd an. Er sah mich überrascht an; er hatte anscheinend nicht erwartet, dass ich so einfach mitkam.

Er nahm mich an der Hand und führte mich durch so viele Korridor, sodass ich irgendwann völlig die Orientierung verlor und mich an seinen Arm klammerte, aus Angst, beim Loslassen verloren zu gehen.

Ich sah Segal grinsen, aber das interessierte mich wenig.

Er huschte durch die Gänge und ich versuchte seinem Beispiel zu folgen. Ich wusste nicht, wie lange wir durch die riesige Schule geisterten, aber irgendwann hielt er an und flüsterte: „Da rein."

Ich öffnete eine alte Tür und mir kam kalter Wind entgegen. Im T-Shirt begann ich sofort zu frieren.

Ich nieste und wortlos gab mir Segal seine Strickjacke.

Mich beschlich die Idee, dass er mich vielleicht auf ein Rendezvous ausführen wollte, oder mir vielleicht den Sternenhimmel zeigen wollte.

Die Gedanken wärmten meinen Bauch und ließen mein Herz schneller Schlagen.

„Komm", er nahm meine Hand und schloss die Tür hinter uns. Mein Gefühl wurde stärker und mein Herz schneller.

Es war dunkel. Ein offenes, morsches Fenster zeigte uns den Nachthimmel.

Segal führte mich eine Treppe hinauf und mit jedem Schritt wurde es kälter.

Und ein komisches Gefühl beschlich mich. Ich fühlte mich schwach.

Auch Segal atmete schwerer und schien zu frieren. Ich drückte mich an ihn um ihn zu wärmen, aber auch ich war kalt und die Strickjacke half nicht fiel. Ich hatte nur seinen unglaublichen Geruch in der Nase.

Segal kämpfte sich mit mir aber immer mehr Stufen hinauf und ich merkte, dass immer mehr Umrisse der Treppenstufen sichtbar wurden. Was auch immer da oben war, es leuchtete.

„Schließ die Augen", murmelte Segal leise an meinem Ohr und voller Erwartung schloss ich sie.

Er führte mich noch weitere Stufen empor, dann blieb er stehen und mein Magen machte einen Hüpfer. Was sich wohl vor meinen Augenlider verbarg?

„Öffne deine Augen", befahl mir Segal und ich riss sie auf. Mein Magen sackte nach unten, denn es war nichts Romantisches, aber sprang wieder hoch, als ich erkannte, was es stattdessen war.

„Segal, sind wir im Nordturm?" Er wirkte ernst und erstaunt, als er nickte.

„Was weißt du hier rüber?", fragte er mich und musterte mich.

Ich schluckte, und setzte mich auf eine Stufe. Ich blickte zu dem dunklen Spiegel, dass etwas Dunkles entblößte. Eine Masse, eine schwarze glänzende Masse, die mich und Segal umgab.

„Ich habe ein Gespräch mit Ms. Larche belauscht. Darin ging es um eine Dunkelheit, die das Volk der Feen verschlucken wird. Bis jetzt hatte ich mich nicht getraut, hier hoch zu kommen und das zu sehen", ich deutete mit meiner zitternden Hand auf den Spiegel, „Liz machte mich wenig später darauf aufmerksam, dass sie schwächer geworden ist, und auch Ms. Larche wirkt schwach, findest du nicht? Ms. Larche gibt auf, hat sie Ms. Kaplin gesagt.", ich stockte.

Segal setzte sich neben mich und zog mich ins seine Arme.

Zwar realisierte eine Hälfte meines Gehirns, dass ich gerade meinen Kopf an seiner Brust ruhen hatte, aber ich war zu sehr mit dem Spiegel vor mir beschäftigt, als das ich mich darüber hätte freuen können. „Das ist unfassbar", flüsterte Segal und sein Atem streifte meine Haare.

Ich grummelte zustimmend. Das war es. Unfassbar. Ich erzählte ihm noch von dem Buch und Segal hörte mir aufmerksam zu, während er uns sanft hin und her wiegte.

„Das ist unfassbar", wiederholte er, als ich geendet hatte und wieder konnte ich ihm nur zustimmen.

„Was machen wir denn jetzt? Irgendetwas müssen wir doch tun können? Und was ist das für eine schwarze Masse?", er sprach die Fragen laut aus, die mir im Kopf herumschwirrten.

„Ich weiß es nicht", wisperte ich und schloss die Augen.

„Vielleicht steht etwas in der Bibliothek", murmelte Segal und fast hätte ich nicht realisiert, was er meinte. Aber nur fast. Und so öffnete ich schlagartig meine Augen und befreite mich aus seinem sanften Griff. „Das ist es. Komm!", rief ich und preschte die Stufen hinab, während Segal Mühe hatte, mir zu folgen.

„Warte!", rief er, aber ich lief weiter und riss die Tür zum Korridor auf. Nun war Segal auf gleicher Höhe mit mir. Ich besaß den Mut, nach seiner Hand zu greifen und ihn mit mir zu ziehen.

Er hatte nichts einzuwenden und folgte mir lautlos durch die Gänge.

Vor der Schulbibliothek blieben wir stehen. 


The White fairy #JustWriteItWo Geschichten leben. Entdecke jetzt