Kapitel 1

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Am späten Abend waren die Strassenlampen, bis auf einige Schaufenster, welche leicht beleuchtet wurden, die einzige Lichtquelle. Dunkle Wolken verdeckten den Mond und Nebel tanzte auf den Dächern der Häuser.

„Was soll das heissen, nicht erledigt?" „Setz sofort ein Meeting an!"
Alessandro eilte durch die Strassen. An einem Ohr sein Handy, in welches er mit gehetztem Ton sprach, in der anderen seine Tasche, welche er bei Geschäftsterminen bei sich hatte. Er überlegte sich, wie es dazu kam, dass seine Leute ihren Job nicht mehr erledigten. So etwas konnte er sich in seiner Branche nicht leisten, denn man sollte erwarten können, dass alles reibungslos abläuft. Kopfschüttelnd beendete er das Gespräch und steigerte sein Tempo.

In der Hektik übersah Alessandro eine junge Frau, die seinen Weg kreuzte. Sie schien ebenfalls nicht aufgepasst zu haben, denn sie stiessen zusammen, die Frau verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Nachdem Alessandro sich vom ersten Schrecken erholt hatte, sah er mit entsetztem Gesicht auf sein Handy, welches ihm heruntergefallen war. Fluchend hob er es hoch und sah sich das zerstörte Display an. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

„Können Sie nicht aufpassen? Sehen Sie, was Sie angerichtet haben!", sagte er in eisigem Ton und hielt ihr sein Telefon unter die Nase. Bei genauerem Betrachten sah er, dass sie das Gesicht zu einem leichten, entschuldigenden Lächeln verzog und sich wieder aufrappelte.
„Es tut mir wirklich Leid Sir, ich habe wohl nicht aufgepasst. Hier, nehmen Sie mein Handy, Sie scheinen es nötiger zu haben als ich."

Sie streckte ihm das Handy entgegen und er, vollkommen perplex, nahm es an sich.
„Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen, und nochmals Entschuldigung für die Umstände!" sagte sie und verabschiedete sich in die entgegengesetzte Richtung.

„Was war denn bitte das?" fragte sich Alessandro und blickte überrascht auf sein neues Telefon. Normalerweise hätte er die Situation anders geregelt, ihr Handy wäre sicher nicht nötig gewesen. Zugegeben, heute hatte er sich nicht unter Kontrolle. Ihre unschuldige Art hatte ihn komplett überfordert.

Alessandro wusste mit Leuten umzugehen, die in hohen Kreisen fungierten und Macht ausüben wollten. Er war ein sehr überzeugender Mann, wenn es sein musste und hatte sich seine Stellung erkämpft. Seine Geschäfte liefen gut, wenn man das vorherige Telefonat und einige unschöne Angelegenheiten ignorierte. Dies lag zu grossen Teilen auch daran, dass er seinen Leuten vertraute, und dies beruhte auf Gegenseitigkeit. Natürlich beschrieb das nur einen kleine Gruppe seiner Gefolgsleute, denn er war für die Rekrutierung nicht verantwortlich. Wenn seine obersten Männer jemandem die Tore öffneten, war das ihre Sache, und sie bürgten für die neuen Mitglieder. Alessandro führte das Geschäft mit eiserner Hand. Hätte er die Zügel gelockert, wäre er schon längst unter der Erde. Nur bei seinem engsten Kreis liess er zu, dass sie hinter seine Maske blicken konnten, und das waren sehr wenige. Gefühle zuzulassen war ein Zeichen von Schwäche, und dies konnte er sich nicht erlauben. Kein zweites Mal.

Er schüttelte den Gedanken ab. Er durfte nicht wieder daran denken, er hatte Wichtigeres zu tun. Wo war er gerade? Richtig, das Telefon.

Kurzerhand wählte er die Nummer von Benino.
"Ich brauche alle Informationen über diese Nummer in zwei Stunden im Delirio. Gib Lorenzo Bescheid, dass er mich dort treffen soll. Das wäre alles." Er wartete die Antwort nicht ab und lief weiter, seine Gedanken wanderten wieder zurück an die kurze Begegnung.

Was war an ihr so speziell? Wieso dachte er an sie? Normalerweise verschwendete er keine einzige Minute für belanglose Begegnungen. Seine Frauenbekanntschaften würde er nicht wieder erkennen, wenn eine von ihnen vor ihm stehen würde. Doch sie ganz bestimmt.
Schluss damit!
Er hatte schliesslich genügend andere Sachen, um die er sich zu kümmern hatte. Jasper, ein enger Vertrauter, hatte seine Befehle nicht ausgeführt. Das kostete ihn sein Leben, er wurde bei einem Schusswechsel getötet. Alessandro's Vater würde explodieren, wenn er davon erfahren erfuhr. Dieser hatte das Geschäft seinem Sohn vor sieben Jahren vermacht. Nun war Alessandro 27 Jahre alt und bereits von Erfahrungen gezeichnet. Eine Narbe von einem Einschlussloch zierte seine Haut oberhalb seiner rechten Rippe. Nur wenige wussten, dass er damals schwer verwundet wurde. Frustriert strich er sich durch die schwarzen Haare. Er dachte schon ganz wirr und unzusammenhängend.
"Alles muss man selber machen!", fluchte er. "Inkompetente Idioten!"

Normalerweise würde sich Alessandro über solche Kleinigkeiten nicht aufregen, aber der Tod von Jasper nahm ihn mehr mit, als er gedacht hatte. Nicht auf der emotionalen Ebene, das würde er sich nie eingestehen. Nein, es ging eher darum, dass jemand seine Arbeit nicht richtig ausgeführt hat, was wiederum bedeutete, dass er ein Exempel statuieren musste. Ausserdem war er in einer fremden Gegend zu Fuss unterwegs, weil er seine Gedanken in Ruhe sortieren wollte. Normalerweise war Hank mit dabei, doch dieses Mal hatte er ihn zurückgelassen. Das war eine seiner wenigen, schlechten Ideen gewesen.

Wenn in seinen Kreisen bekannt wurde, dass Alessandro Morano zu Fuss durch die Gegend stapfte, würde er zum Gespött werden.

Auf dem Weg bog Alessandro mehrmals in dunkle Strassenteile, damit er unerkannt blieb. Es fühlte sich an, als würde er sich vor etwas verstecken, eine Eigenschaft, die ihm grundsätzlich fern war. Also lenkte sich ab mit der Begegnung, die er zuvor hatte. Er machte sich ein Spiel daraus, zu erraten, was diese Frau wohl für Geheimnisse hatte. Sie war ein Mysterium und das war der Punkt, der Alessandro reizte, zu seinem eigenen Ärgernis. Er war sich aber sicher, das er bald Antworten auf seine Fragen finden würde. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. So leicht, dass man es kaum erkennen konnte. Oh ja, er würde seine Antworten finden.

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