Kapitel 8

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Während die Minuten verstrichen, rätselte Marie, wie sie ihren Eltern diese Neuigkeit beibringen sollte. Sie hatte sogar im Internet nach Gesprächsanfängen gesucht. Um sicher zu gehen, dass sie nichts vergass, hatte sie sich einige Punkte auf einem Block aufgeschrieben, welchen sie in ihrer verkrampften Hand hielt. Marie machte sich gerade einen Tee, als sie von der Türglocke aufgehalten wurde. Sie stellte den Krug mit dem heissen Wasser auf den Tisch und lief zur Tür.

Drei Atemzüge später liess sie ihre Eltern zu sich in die Wohnung. Bei dem Anblick schluckte sie ein paar Mal. Ihre Mutter hatte ein wunderschönes, grünes Kleid an mit den neuen Schuhen, von welchen sie Marie bereits zuvor erzählt hatte. Ihr Vater hatte ein Hemd zu einer dunklen Jeans kombiniert. Als er in Marie's Gesicht blickte, wurde seine Miene ernst. Er schob sich an seiner Frau vorbei und nahm seine Tochter in die Arme. Der Damm war gebrochen. Marie schluchzte verzweifelt an der Schulter ihres Vaters. Ihre Mutter stand daneben und wurde bleich. Einige Minuten standen sie so da, vielleicht auch, weil alle wussten, dass von diesem Augenblick an nichts mehr so sein würde, wie es war.

Langsam lösten sie sich voneinander und betraten das Wohnzimmer. Der schlichte Raum mit dem Sofa und dem Sessel, einigen Kommoden und dem Leseregal war der einer jungen Frau, welche keine Perspektiven im Leben mehr sah. Das wurde Marie bewusst, als sie mit leerem Blick auf einem Sessel Platz nahm. Ihre Eltern setzten sich ihr gegenüber auf das Sofa.

"Marie", brach ihr Vater das Eis. "Du musst uns sagen, was passiert ist."

Ja, das musste sie. Doch wie konnte man seinen Eltern beibringen, dass man mit hoher Wahrscheinlichkeit die Erde früher verliess als sie?

Zögerlich richtete sie ihren Blick auf den Notizblock. Nach kurzem Überfliegen blickte sie auf und sah ihren Eltern in die Augen.

"Ich weiss nicht, wie ich es euch schonend beibringen kann. Ich bitte euch, mich nicht zu unterbrechen, ihr könnt danach Fragen stellen. Sonst schaffe ich das nicht."
Ihre Eltern nickten zu."Wir sind bereit Schatz."

Seufzend holte Marie Luft.

"Vor einem halben Jahr wurde bei mir Leukämie diagnostiziert. Das ist eine Erkrankung des Knochenmarks. Es ist so, als würde sich in meinem Inneren ein Kampf abspielen, um es euch einfach zu erklären. Weisse Blutkörperchen, die nicht funktionieren, schwimmen ins Blut und verdrängen Stammzellen, welche zur Bildung aller Blutzellen gebraucht werden. Ich habe somit zu viele weisse Blutkörper in meinem System und zu wenig rote Blutkörper und Blutplättchen, die aber zentral sind für den Sauerstofftransport. Die Krankheit befällt die Organe und kann auch zum Gehirn und den Hirnhäuten übergehen."

Schweigen.

"Ich weiss nicht, wie ich es euch sonst erklären kann, aber ich kann euch anbieten, beim nächsten Mal mit zu Doktor Wilson zu kommen. Er wird es euch sicher besser erklären können als ich."

Marie konnte ihr eigenes Blut pochen hören. Ihr Herzschlag war schnell und kalter Schweiss durchzuckte ihren Körper. Während ihrer Erzählung hatte sie beobachten können, wie ihre Eltern eine Reihe von Gesichtszügen durchmachten. Entsetzen, Fassungslosigkeit, Wut, Bedauern, Trauer. Nun wartete sie, bis ihre Eltern sich gesammelt hatten.

"Ich weiss nicht, was ich sagen soll", begann ihr Vater.
"Oh, ich weiss ganz genau was ich sagen soll Alexander", meinte ihre Mutter, "wieso hast du bis jetzt gewartet? Wir hätten dir doch helfen können Schatz. Aber wieso gerade du? Du warst immer so ein braves Mädchen, hast dein Leben anständig gelebt, hast nie geraucht oder getrunken. Das ist einfach nicht richtig!"
Ihre Mutter gestikulierte wild mit den Händen, wobei ihr Vater einfach nur da sass und seinen Gedanken nachging. Plötzlich hob er den Kopf und schaute sie an.

"Wie wusstest du es?, fragte er.

Sie sah in an. "Ich hatte Kopfschmerzen und manchmal starkes Fieber. Aber vor allem war ich immer müde. Ich dachte nicht, dass es etwas Schlimmes sein könnte, aber dann wollte ich sicher gehen. Mein Arzt hat mich dann ins Krankenhaus verwiesen und dort traf ich auf Doktor Wilson, der mir alles erklärte. Wir haben es bis jetzt mit den Medikamenten versucht und einige Male bekam ich Infusionen. Erinnert ihr euch noch, als Carina ihre Hochzeit feierte und ich nicht dabei sein konnte? Oder als Tim sich einen Hund kaufen wollte? Da war im Krankenhaus. Es tut mir so Leid, dass ich es euch nicht früher gesagt habe, aber ich dachte immer, es würde besser werden."

Sie lächelte gequält und sprach leise weiter. "Aber beim letzten Besuch, da sagte er es werde nicht besser und ich muss mich jetzt bestrahlen lassen. Dann werden mir nach und nach die Haare ausfallen und ich sehe richtig krank aus. Alle werden mich dann anders behandeln und das ist dass, was ich nicht möchte." Sie schluckte und ihr lief eine Träne über die Wange. "Ich möchte nicht so gehen. Ich will, dass alles so bleibt, wie es ist."
Danach konnte sie nicht weitersprechen. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und weinte. Ihr Körper zuckte und als ihre Mutter ihr die Hand auf die Schulter legte, liess sie es zu.
"Wir schaffen es gemeinsam. Wir helfen dir, wo wir können. Ich möchte", sie schaute zu ihrem Mann und korrigierte, "wir möchten dabei sein. Beim nächsten Besuch setzen wir uns dazu und besprechen alles mit Doktor Wilson. Hast du schon mit Anna gesprochen?"

Marie schüttelte den Kopf.

"Gib mir mal dein Telefon, ich rufe sie an, sie sollte dabei sein, wenn wir die nächsten Schritte besprechen." Stumm gab sie ihrer Mutter das Telefon und diese machte sich auf in die Küche, um die Schreckensbotschaft ihrer besten Freundin zu vermitteln.
Eine halbe Stunde später stand auch Anna völlig aufgelöst im Wohnzimmer und weinte zusammen mit Marie.

Als die Nachricht einigermassen verdaut war, rief Marie Doktor Wilson an, der sofort Platz für sie schuf. So sassen sie zu Viert im Wartezimmer, in welchem Marie schon so oft alleine war. Dieses Mal war es anders, sie hatte ihre Liebsten bei ihr. Und doch wusste sie nicht, wie sie sich fühlen sollte. Vorher waren alle um sie herum entspannt und fröhlich. Jetzt schien es, als wurden sie von einem dunklen Schleier eingepackt. Sie konnte nur hoffen, dass sich dieser auch wieder lüften würde.



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Hallo liebe Gleichgesinnte. Diejenigen, die es bis hier hin schafften:
Danke, dass meine Geschichte euch gefällt! Fragen, Anmerkungen, Ideen oder auch Vorahnungen sind gerne gesehen, aber auch stille Leser sind herzlich willkommen :)

Liebe Grüsse

Jessica

Sein WunderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt