Kapitel 2

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Marie's Wecker klingelte und sie stöhnte auf. Sie hatte in dieser Nacht nur wenig Schlaf bekommen. Ihr Kopf brummte noch immer wegen des unangenehmen Zusammentreffens mit dem Fremden. Sie hatte, als sie letzte Nacht nach Hause kam, über sich selbst geflucht. Ihr war die Situation so peinlich gewesen, dass sie ihm gleich ihr Handy anbot und möglichst schnell von ihm weg wollte.

Sie stand auf, streckte sich und lief ins Bad. Dort wusch sie ihr Gesicht und putzte sich die Zähne. Dann machte sie sich auf den Weg zur Küche, wo auf dem Tresen schon die Medikamente standen, die sie sich am vorigen Abend zurechtgelegt hatte. Sie nahm ein Glas aus dem Schrank, füllte kaltes Wasser hinein und nahm ihr Medikamentencocktail.

Diese Vorzüge des Lebens, dachte sie sich. Aber schnell verdrängte sie die hässlichen Gedanken. Sie musste positiv denken, hatte der Arzt gesagt. Er hatte auch gesagt, sie sollte mit jemandem reden, aber das hatte sie abgelehnt. Es war besser, niemand wusste Bescheid, da sie die traurigen Blicke der Leute nicht ertragen würde. Schliesslich hatte jeder seinen Rucksack zu tragen, ihrer war eben nur ein bisschen mehr gefüllt.
Sie machte sich auf zu ihrem Kleiderschrank und zog sich eine verwaschene Jeans an. Dazu eine weisse Bluse, die schon etwas abgetragen aussah. Sie war immer diejenige gewesen, die nicht viel Wert auf ihr Aussehen gelegt hatte. Früher hatte sie sich zwar oft geschminkt, aber irgendwie war sie momentan nicht in der Verfassung, über ihr Makeup nachzudenken, oder allgemein, was andere von ihr hielten. Nachdem Marie sich angezogen hatte, verliess sie ihre kleine Wohnung und machte sich auf, um sich mit Anna zu treffen.

Anna hatte sie vor einem Jahr kennengelernt. Sie war das pure Gegenteil zu ihrer ruhigen, zurückhaltenden Art. Anna stand mit beiden Beinen im Leben, war immer fröhlich, lustig und spontan. Sie hatte ein grosses Mundwerk und war sehr schlagfertig, was bei einigen Leuten auf Ablehnung stiess, Marie aber sehr willkommen war. Wenn sie genau darüber nachdachte, hatten sich Anna und sie zugegebenermassen schon oft in peinlichen Situationen wiedergefunden. Das eine Mal zum Beispiel, als sie einer Dame ein Deo kaufte und mit einem Lächeln sagte: "Hier, das schenke ich ihnen, den Rest müssen sie aber schon selber machen!" Oder das eine Mal, als Anna ausplauderte, dass Mika ihren Freund betrogen hatte. Oder, als sie jemanden auf der Strasse darauf aufmerksam machte, er solle es doch einmal mit weniger Burger, dafür mit mehr Salat versuchen. Diese Liste könnte noch Stunden so weitergehen.

„Marie Schätzchen, schön dich zu sehen!" sagte Anna, als Marie vor ihrem Lieblingscafé stand. Sie umarmten sich kurz und setzten sich draussen an einen freien Tisch, von dem aus sie einen wunderschönen Blick auf den See hatten. Es war ein schöner Sommermorgen und die Sonnenstrahlen berührten Marie's Gesicht. Sie genoss die Ruhe und die Gelassenheit, die der Ort auf sie übertrug und schloss kurz die Augen, um den Moment in ihrem Gedächtnis abzuspeichern.

Anna stupste sie an. „Bist wohl noch nicht ganz wach, was?" fragte sie erheitert und lächelte. „Erzähl mal, hast du denn nun jemanden? Ich möchte alles wissen! Ist er gross? Hat er Muskeln? Bestimmt hat er das, das würde so süss aussehen, wenn er neben dir stehen würde!"
Marie grinste. So kannte sie ihre Freundin, immer gerade heraus mit ihrer Meinung.
„Nein, ich habe niemanden, ich bin zufrieden damit, wie es jetzt ist. Es ist gut so, glaube mir." Anna verzog das Gesicht und setzte ein Lächeln auf, als Marie ihr versprach, wenn sich etwas ergab, würde sie es als Erstes erfahren. Beziehungen waren momentan ein heikles Thema für Marie. Sie erwartete von niemandem, in ihrem Zustand bei ihr zu sein. Sie konnte dies keinem anderen Menschen antun. Darum wollte sie auch Anna nichts erzählen.

„Ladies, was kann ich heute für Sie tun?" Ein Kellner in einem blauen Shirt strahlte sie beide an und drückte ihnen die Karte in die Hand.
„Für mich ein Café mit zwei Stück Zucker bitte, mit Ihrer Telefonnummer und einem Vorschlag, wann wir uns treffen!" flirtete Anna gleich los und Marie wurde rot. Es war ihr noch immer peinlich, wenn Anna sich so ins Zeug legte. Es fühlte sich etwa gleich an, als ihr Vater in ihrem Lieblingsrestaurant das Essen zurückgab, weil es ihm nicht würzig genug war. Solche Situationen sind Alltag für normale Menschen, aber Marie wollte am liebsten im Boden versinken, wenn so etwas passierte.

Der Kellner grinste und meinte: „Mal sehen, was sich da machen lässt."
Er drehte sich zu Marie um. „Und für Sie?"
„Für mich einen Kamillentee bitte", antwortete Marie peinlich berührt und gab ihm die Karte zurück. Nachdem der Kellner aus dem Sichtfeld der jungen Damen verschwand, drehte sich Anna wieder zu ihr um.
„Dein Haar ist irgendwie anders, so matt, hast du es schon einmal mit einer Spülung versucht?"
Als ob eine Spülung da helfen könnte, dachte Marie, und sagte stattdessen: „Hmm, gute Idee, ich versuchs mal."
Da kam der Kellner auch schon mit den Getränken, stellte sie ab und verschwand. Tatsächlich war er Anna's Forderungen nachgekommen, nicht, dass es Marie überrascht hätte.

"Sag mal, hast du dich denn schon nach einem Job umgesehen? Ich meine, du arbeitest in einer Hundepension, dass kannst du doch besser, meinst du nicht?"

"Ich habe dir doch gesagt, dass ich das gerne mache", erwiderte Marie. "Ich freue mich jeden Tag darüber, dass ich dorthin gehen kann, wirklich. Die Kunden sind toll, die Hunde sind niedlich und sie sprechen nicht viel, also genau nach meinem Geschmack!"
"Das ist auch wieder wahr", lachte Anna.

Mit Tieren zu arbeiten brachte Marie auf andere Gedanken, und das konnte sie momentan sehr gut gebrauchen.
"Und wie läuft es bei dir Anna? So wie du mit dem Kellner geflirtet hast wurde wohl nichts aus Max?"
"Hmm, wer war noch gleich Max, der Blonde oder der mit den Locken?"
"Ich glaube der mit den Locken", grinste Marie.
"Ach der. Nee, das wird nichts. Er ist mir einfach zu nett, weisst du? Ich brauche jemanden, der mich im Griff hat. Er muss mit mir fertigwerden können, ich bin eben eine starke Persönlichkeit!"
In der Tat, das war Anna und Marie genoss diese Abwechslung. Die Anwesenheit einer Freundin tat ihr gut und sie fühlte sich schon fast wieder normal. Aber eigentlich, erinnerte sie sich selbst, lebte sie in einem Zeitalter, in dem niemand normal sein wollte. Sie war also schon bei den Spitzenreitern dabei.

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