Kapitel 10: Nur wir

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"Jess, wir sollten reden." Na, wunderbar, das hat mir gerade noch gefehlt. Trotzdem weiß ich, dass sie Recht hat und lasse mich von ihr am Arm packen und an meiner verdutzten Lehrerin vorbei in den Klassenraum ziehen. Sie stellt zwei Stühle gegenüber und setzt sich auf den einen. Seufzend lasse ich mich auf den anderen fallen. Mir geht Izzies Gesichtsausdruck nicht aus dem Kopf, als die Tür aufgegangen ist.  Nachdem sie mich geküsst hat, wirkte sie so, als realisierte sie gerade, dass sie einen großen Fehler gemacht hat. Das gefällt mir gar nicht und ich nehme mir vor, mit ihr zu reden, sobald ich das mit Chloe geklärt habe. Wir müssen sowieso darüber sprechen, was der Kuss für uns zu bedeuten hat. Für mich hat er die Welt bedeutet, aber das weiß sie hoffentlich, nachdem sie meinen Brief gelesen hat.

Chloe unterbricht meinen Gedankengang. "Also du und Isabel? Seit wann? Warum sprichst du mit mir nicht darüber? Sollte ich als deine beste Freundin nicht dafür da sein, dich bei so etwas zu unterstützen?" Ich atme tief durch. Jetzt sollte sie auch wirklich alles erfahren. "Okay, hör zu. Das ist keine so einfache Geschichte. Mir war nicht klar, dass ich auf Frauen stehe, bevor ich sie kennengelernt habe. Ich hatte zwar so eine Ahnung, aber ich war mir nicht sicher. Aber dann kam sie und ich habe mich endlos in sie verliebt. In dem Moment konnte ich nicht mit dir darüber reden, ich musste mir erst einmal selbst darüber klar werden. Ich hoffe du verstehst das." Hilflos blicke ich sie an. Sie nickt. "Nach einiger Zeit habe ich ihr einen Brief geschrieben, in dem ich ihr alles gestanden habe. Daraufhin hat sie zwei Wochen nicht mehr mit mir gesprochen. Und das gerade eben... Da hat sie mich einfach ohne Vorwarnung geküsst. Aber danach ist sie weg gerannt, als hätte sie etwas Verbotenes gemacht und jetzt bin ich noch verwirrter als vorher." Ich stocke. Ohne es zu wollen, habe ich angefangen zu weinen. Ich schniefe und versuche die Tränen aufzuhalten, aber es geht nicht. Wie ein kleines Kind, sitze ich verloren auf meinem Stuhl und weine. "Hey. Hey! Nicht weinen!" Chloe springt sofort auf und nimmt mich in die Arme. Es tut so gut, ihr endlich alles gesagt zu haben. "Ich kann dich nicht verlieren, Chloe!", bringe ich noch heraus. Sie nimmt mein Gesicht in die Hände und schaut mich ernst an. Auch in ihren Augen bilden sich Tränen. "Du wirst mich nicht verlieren. Du bist meine beste Freundin, Jess. Und egal was ist, du kannst mir alles sagen."

 Eine Weile sitzen wir so da und sie streichelt mir über den Rücken.  Irgendwann löst sie sich von mir. "Wissen es deine Eltern?" "Oh Gott, nein! Du bist die Einzige, die es weiß. Außer Izzie natürlich." Chloe nickt verständnisvoll. Dann grinst sie frech. Ich muss auch lächeln, während ich mir die letzten Tränen aus den Augenwinkeln wische. "Hey." Ich stupse sie an. "Was ist los?" "Sie lacht weiterhin, als sie mich fragt: "Und wie war es?" Verwirrt schaue ich ihr in die Augen. "Wie war was?" "Na, der Kuss, du Dummerchen." Lachend nimmt sie mich in die Arme. "Gehen wir was essen? Dann kannst du mir alles ganz detailliert erzählen!" "Aber eingeladen wirst du trotzdem nicht!", fügt sie gespielt streng hinzu. Das Angebot nehme ich trotzdem dankend an. 

eine Woche später: 

Ich habe alles probiert, um mit Izzie zu reden, aber sie ist mir einmal wieder gekonnt ausgewichen. Ich habe ihr geschrieben, sie mehrfach angerufen und versucht sie nach dem Unterricht abzupassen - erfolglos. Auf Anrufe und Nachrichten antwortet sie einfach nicht und in der Schule sind wir nie alleine und ungestört. Nach dem Kuss sind wir wieder in das gleiche peinliche Schweigen gefallen, wie vorher, nur dass dieses Mal noch mehr zwischen uns steht. Je länger sie mich ignoriert, desto wütender werde ich. Sie weiß, dass ich sie liebe und dann küsst sie mich erst, um mich dann wieder anzuschweigen? Warum versucht sie nur mit aller Kraft, mir weh zu tun?

Gerade habe ich zusammen mit ihr Deutsch und ich kann sie nicht aus den Augen lassen. Wenn sich unsere Blicke zufällig treffen, sind ihre Augen so traurig, dass ich schon fast Mitleid habe. Aber nein, sie ist mir eine Erklärung schuldig, die sie mir nicht geben will. Bis dahin, darf ich wütend sein. Ich hoffe sehr, dass sie einen guten Grund hat, schließlich hat sie mich geküsst und nicht andersrum. 

Als Hausaufgabe sollten wir ein Liebesgedicht schreiben, aber ich konnte das in meiner Verfassung beim besten Willen nicht. Unsere Lehrerin, Frau Rosenstolz, scheint zu merken, dass Izzie nicht bei der Sache ist. "Da es keine Freiwilligen zu  geben scheint, muss ich wohl jemanden aussuchen. Isabel, wie wäre es mit dir?" Izzie, die mir gerade einmal wieder einen verstohlenen Blick voller Kummer zugeworfen hat, schreckt auf. "Ich? Was? Vorlesen?" Frau Rosenstolz kennt kein Mitleid und schaut sie stirnrunzelnd an. "Ja, du liest bitte vor. Oder gibt es hier noch eine andere Isabel?" Izzie schüttelt beschämt den Kopf. "Na also, dann fange doch bitte an." Izzie startet einen letzten erbarmungswürdigen Versuch, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. "Aber mein Gedicht ist ein bisschen traurig, Frau Rosenstolz." Ich habe eine böse Vorahnung, was jetzt kommen könnte. Unsere Lehrerin hat keine Gnade und Izzie stellt sich vor die Klasse und beginnt leise und stotternd vorzulesen. 

Ich schaue dich an, mein Herz erstarrt,
ich rühre dich an, mein Finger erzittert,
ich werde rot, wenn deine Hand auf mir verharrt,
du küsst mich, mein Verstand - zerschmettert.

Das Blut schießt mir in den Kopf und ich werde rot. Ich hatte Recht. Dieses Gedicht dreht sich um uns.

Doch alles, was mir bleibt
ist dir zu sagen, dass ich es nicht kann,
auch wenns mir Tränen in die Augen treibt,
vielleicht jetzt wird nun zu irgendwann.

Ich schüttele den Kopf. Sie hat mir soeben eine Antwort gegeben. Ich habe tausend Mal versucht, sie zu erreichen und sie antwortet mir in Form eines Gedichts vor der ganzen Klasse.

Ich merke, ich werde dich sehr missen,
wie gern ich doch hier bliebe,
sollst du nur eines von mir wissen,
es gibt nichts, was ich mehr liebe.

Hat sie gerade gesagt, dass sie mich liebt?

Wie gerne doch würde ich nun sagen,
du und ich in Ewigkeit vereint:
dem Schicksal  zum Trotz, ohn' drüber zu klagen,
bloß ist es die Gesellschaft, die uns weiterhin verneint.

Mir schießen Tränen in die Augen.

Stell dir vor, es gibt nen Ort,
weit, weit von hier fort,
den keiner kennt, außer wir zwei,
wir wär'n dort also völlig frei,
kein Hass, kein Neid und keine Gier,
dann bliebe nur das Wir.

Die ganze Zeit über hat sie ihr Blatt fest umklammert und ihren Blick nicht davon abgewandt, aber jetzt stockt sie. Und sie sieht mich an. Das wars. Ich kann nicht mehr. Bevor ich noch vor der ganzen Klasse in Tränen ausbreche, springe ich auf und renne raus. Dabei murmele ich so etwas, wie: "Entschuldigung, mir geht es nicht gut." Ich muss hier weg. Weg von diesem Mädchen, dem ich mein Herz offenbart habe, die mich geküsst und dann ignoriert hat. Die mir ein Gedicht widmet, in dem sie mir sagt, dass sie keine Beziehung mit mir eingehen kann. 

Bevor die Tür hinter mir zufällt, höre ich, wie Chloe Frau Rosenstolz bittet, nach mir sehen zu dürfen. Ich renne weiter. Hinter mir höre ich schnelle Schritte auf dem Boden widerhallen. Ohne mein Tempo zu verringern, biege ich in einen Gang ein. Ohne Ziel laufe ich weiter. Ich will nur weg. 

Doch die Stimme, die da hinter mir meinen Namen ruft, ist nicht Chloes. Mein verwirrtes Gehirn braucht einige Zeit, um zu realisieren, dass sie dem Menschen gehört, den ich auf der Welt gerade gleichzeitig am meisten liebe und hasse. Wie kann sie mir so etwas antun? Dieses Mal bleibe ich stehen. Ich höre, wie sie hinter mir keuchend zum Stehen kommt. Ich drehe mich um. 

Wie im Rausch schlage ich zu. 

She - Als mein Leben ins Wanken gerietWo Geschichten leben. Entdecke jetzt