Schmerzen. Das erste, was ich wahrnehme, als ich aufwache, sind die Schmerzen. Und leise Stimmen. Langsam nehme ich mein Umfeld wahr. Meine Eltern stehen an der Tür eines kleinen Krankenhauszimmers und unterhalten sich mit dem Arzt. Mein einer Arm ist eingegipst und ich trage einen großen Verband um meine Stirn. Mein Sichtfeld ist eingeschränkt, ich glaube meine Augen sind zugeschwollen. Als ich mit der Zunge über meine Lippen fahre, schmecke ich altes Blut. Stöhnend versuche ich mich aufzurichten. Sofort wird um mich herum alles wieder schwarz. Unsanft falle ich auf mein Kissen zurück. Innerhalb von Sekunden sind meine Eltern bei mir. Meine Mutter nimmt mich in den Arm und streicht mir über die Haare. Als ich wieder etwas erkennen kann, sehe ich, dass sie geweint hat. Ihre Augen sind rot und verquollen, auch wenn ihre Lippen lächeln. Der Arzt kommt dazu. "Willkommen zurück. Sie hatten großes Glück." Ich würde meine Situation nicht gerade als glücklich bezeichnen, aber ich verstehe, was er meint. "Wie lange war ich weg?" Mein Vater nimmt sanft meine Hand. "Einen ganzen Tag. Wir haben uns solche Sorgen gemacht." Meine Mutter löst sich von mir. Das Lächeln auf ihrem Gesicht verschwindet. Dann flüstert sie:"Warum hat er dir das angetan?"
Auf einmal sind all die schrecklichen Erlebnisse wieder präsent. Joshs wutverzerrtes Gesicht, bevor er zuschlägt. Ich, wie ich wimmernd auf dem Boden liege. Izzie, die mir sagt, dass sie mich liebt. Ich winde mich unter den Erinnerungen. Der Arzt scheint zu sehen, dass ich im Moment nicht sprechen kann und schickt meine Eltern nach Hause. Erst wollen sie nicht gehen, doch er lässt nicht mit sich diskutieren. Eigentlich will ich ihm danken, doch in meinem Kopf herrscht eine grausame Leere. Ich kann mich nicht bewegen und verharre gekrümmt unter der Bettdecke. Quälend langsam falle ich in einen traumlosen Schlaf.
Ich werde von einer bekannten Stimme auf dem Gang geweckt. "Sie kann jetzt keinen Besuch kriegen", höre ich jemand anderen sagen. "Aber ich muss zu ihr!" Diese Stimme zaubert mir ein Lächeln aufs Gesicht. "Hey!" Meine Stimme ist nicht mehr als ein schwaches Krächzen. Ich räuspere mich. Dann nochmal, viel lauter. "HEY!" Knarzend öffnet sich die Tür und eine Schwester blick hinein. "Sie kann bleiben." Kritisch beobachtet sie mich. Ich richte mich auf und versuche zu lächeln. Das muss ziemlich erbärmlich wirken, denn ich sehe schrecklich aus, mit all den Wunden und Verbänden. "Bitte", füge ich leise hinzu. Die Schwester nickt und tritt beiseite. Ich höre schnelle Schritte, dann tritt Keira ein. Ihre Haare sind durcheinander, ihre Klamotten passen nicht zusammen. Trotzdem sieht sie gut aus, auf ihre eigene Art und Weise. "Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte." Schnell läuft sie auf mich zu und umarmt mich. Auf meinen Lippen bemerke ich den salzigen Geschmack von Tränen. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich weine. Aber Keira hält mich fest, während ich schluchzend in ihren Armen zusammenbreche.
Als ich mich gefangen habe, frage ich: "Woher weißt du, was passiert ist?" Seufzend macht sie es sich neben mir im Bett bequem und legt ihren Kopf an meine Schulter. "Chloe hat mich angerufen. Sie war gestern den ganzen Tag und die Nacht über hier. Jetzt ist sie nach Hause gegangen, um zu schlafen. Ich musste ihr versprechen, nach dir zu sehen, sonst wäre sie bestimmt immer noch hier." Ich muss lächeln. Ja, das klingt nach Chloe. Als Keira sieht, wie ich grinse, macht sich auch auf ihren Lippen der Anflug von einem Lächeln breit. Sie ist hübsch, wenn sie lacht. Das erinnert mich an die Nacht nach dem Konzert, in der ich ihr das erste Mal begegnet bin. Wir hatten so viel Spaß zusammen. Unsere Augen treffen sich. Mein Herz schlägt schneller. Ohne darüber nachzudenken, küsse ich sie.
Nach einigen Sekunden weiche ich irritiert zurück. Sie hat meinen Kuss nicht erwidert. Ich sehe, dass ihre Augen geschlossen sind. Eine Träne kullert ihre Wange hinab und fällt auf meine Hand. Ich warte darauf, dass sie endlich etwas sagt. Habe ich einen Fehler gemacht?
Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, öffnet sie ihre Augen und schaut mich direkt an. Es ist, als würde sie bis tief in meine Seele blicken. "Ich will das so sehr, Jess." Ihre Stimme zittert. Ich lächele sie ermutigend an. "Aber ich glaube du willst das nicht." Verwirrt nehme ich ihre Hand. "Natürlich will ich das, sonst hätte ich dich nicht geküsst." Keira schüttelt den Kopf. "Lass mich bitte fertig reden, ja?!" Ich nicke stumm. "Als ich dich kennengelernt habe, fand ich dich sofort toll. Ich wollte mehr von dir, als nur eine gute Freundin sein. Aber du warst komplett in ein anderes Mädchen verknallt. Und Jess... Ich denke, dass bist du immer noch. Ich weiß, was dir passiert ist. Ich weiß, warum du geschlagen wurdest. Und nach allem, was ich über dich weiß, ist das hier deine Art, vor deinen Problemen wegzulaufen. Du küsst mich, weil es einfacher scheint, nicht weil du mich liebst." Sie stockt. Ihre Worte treffen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Hat sie damit Recht?
"Ich will kein Ersatz mehr sein. So weh es mir auch tut, du musst dir zwischen ihr und mir entscheiden." Ihr Blick wird flehend. Ich weiß, was ich jetzt eigentlich sagen sollte. Plötzlich sehe ich wieder Izzie vor mir, wie sie weinend über mir kniet. Das Gefühl, als ich sehe, wie ihre Lippen die Wörter "Ich liebe dich" formen. All die Nächte, die ich nicht schlafen konnte, weil ich ihre Augen nicht aus dem Kopf bekam. Egal, was zwischen mir und Izzie vorgefallen ist, oder wie unsere Geschichte weitergehen wird, ich liebe sie immer noch. Und Keira versteht mich ohne Worte. Schluchzend steht sie auf. "Du liebst sie also immer noch? Es ist egal, was sie getan hat. Du wirst dich immer für sie entscheiden!" Machtlos muss ich mit ansehen, wie Keira zur Tür geht. Verzweifelt rufe ich ihr hinterher: "Bitte Keira. Können wir wenigstens noch Freunde sein?" Sie hält inne und dreht sich um. Ihre Augen sind mit Tränen gefüllt. "Es tut mir Leid, aber ich brauche jetzt ein bisschen Abstand." Sie öffnet die Tür. Dann setzt sie hinzu: "Ich hoffe wirklich, dass das die richtige Entscheidung war. Ich wünsche dir, dass du glücklich wirst."
Dann ist sie weg und ich bin allein. So wie alles begonnen hat.
DU LIEST GERADE
She - Als mein Leben ins Wanken geriet
Teen FictionEine fiktionale Geschichte über eine unglückliche Liebe, den Wunsch nach Anerkennung, Selbstfindung und die Verwirrung, die zurückbleibt, wenn plötzlich nichts mehr so ist, wie es schien. "Unsere Blicke treffen sich und dieses Mal kann sie nicht we...