Kapitel 18: Überraschende Wendungen

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drei Wochen später:

Zitternd stehe ich vor dem Schulgebäude. Gleich werde ich über den Schulhof laufen und alle Erinnerungen werden wieder da sein. Das ist das erste Mal, dass ich nach dem Unfall wieder in die Schule gehe. Es war kein Unfall, klar, aber das klingt besser, als die Tatsache, dass ich aus purer Intoleranz bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen wurde.  Neben mir steht Chloe. Sie sieht, wie ich zögere und legt einen Arm um meine Schulter. "Bereit?" Ich schüttele den Kopf. "Nein, aber lass uns trotzdem gehen." Sie lächelt aufmuntert und wir gehen zusammen los. Anfangs ist es schrecklich. Mit jedem Schritt habe ich das Gefühl, wieder einen Schlag zu spüren. Doch Chloe ist toll. Sei lächelt mich an, macht mir Mut und redet ununterbrochen, sodass ich mich nur auf ihre Stimme konzentrieren kann. Das Wichtigste: Sie lässt mich niemals los. Als wir die Treppen zu unserem Klassenraum hinaufsteigen, kann ich langsam wieder atmen. 

Das ändert sich schlagartig, als ich ein bestimmtes Gesicht in der Menge sehe. Da steht Emma und redet mit ein paar Freundinnen. Sie wird auf mich aufmerksam und ihr Blick sucht meinen. Wie versteinert, bleibe ich stehen. Sie kommt langsam auf mich zu. Jetzt hat auch Chloe bemerkt, was los ist. Sie stellt sich schützend vor mich und faucht Emma an: "Verschwinde!" Emmas blaue Augen blicken flehend. "Bitte, darf ich ganz kurz mit ihr sprechen?" Chloe schüttelt den Kopf. "Hau ab!" Ich weiß genau, dass es mir nicht helfen wird, mit Emma zu sprechen, aber es interessiert mich doch irgendwie, was sie zu sagen hat. Also lege ich Chloe sanft eine Hand auf die Schulter und sage: "Ist schon okay. Lass uns kurz alleine." Sie schaut mich fragend an, geht dann aber doch. Dabei wirft sie Emma noch einen bösen Blick zu. Ich schaue auf die Uhr. "Du hast fünf Minuten, dann muss ich zum Unterricht." Sie nickt. "Können wir irgendwo hingehen, wo uns nicht alle sehen?"  Ich runzele die Stirn. Schade ich ihrem Ruf, oder was?  "Bitte", fügt sie kleinlaut hinzu. Ich packe sie am Arm und ziehe sie in einen Nebengang, in dem noch nicht viel los ist. Sie versucht zu lächeln, aber es funktioniert nicht wirklich. "Also? Willst du mir jetzt erklären, wie zum Teufel, du auf die Idee kommst solche Gerüchte über mich zu verbreiten? Gerüchte, die zu so etwas führen?" Ich hebe meinen Arm, den ich immer  noch in einer Schlinge tragen muss. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. "Bitte, ich habe das nie gewollt." Ich schnaube. "Das ist keine gute Entschuldigung, nach dem, was mir passiert ist." Sie schaut auf den Boden. "Ich bin lesbisch", murmelt sie dann. Erschrocken blicke ich sie an. "WAS?" Ich habe mit vielem gerechnet, aber nicht damit. Ihre Schultern beben. "Das ist keine Entschuldigung, ich weiß, denn ich habe keine. Ich stehe auf Frauen und hatte Angst, dass es jemand herausfindet. Deswegen habe ich versucht alle von mir abzulenken. Ich habe das nie gewollt." Jetzt schaut sie mich wieder an. Auf einmal sehe ich sie mit ganz anderen Augen. Eigentlich sollte ich sie jetzt umarmen, doch das schaffe ich nicht. Ich atme tief durch. "Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich dir alles verzeihe, was passiert ist. Aber ich bin dankbar, dass du ehrlich zu mir warst. Weißt du, es ist nie eine Lösung, sich selbst zu verleugnen." Sie lächelt traurig. "Ich weiß." "Na dann ist ja gut." Mit den Worten drehe ich ihr den Rücken zu und gehe zu Chloe, die am anderen Ende des Ganges auf mich gewartet hat.

5 Stunden später:

Von Chloe erfahre ich, dass für die sechste Schulstunde ein Vortrag für alle zehnten Klassen in der Aula angesetzt ist. Bei uns an der Schule ist es schon immer so gewesen: Es passiert etwas-es gibt einen Vortrag darüber. Dabei werden nie Namen genannt oder der Vorfall beschrieben, aber es weiß eigentlich jeder worum es geht. Ein Beispiel: Vor zwei Jahren wurde eine Wand der Schule mit Graffiti besprüht. Daraufhin durften wir uns einen Vortrag über die Zerstörung von öffentlichem Eigentum und Hausfriedensbruch anhören. Dabei war es kein Geheimnis, dass sich alles um das Graffiti drehte. 

Bei der Veranstaltung heute in der Aula soll es um Toleranz und Mobbing in der Schule gehen. Dabei ist wohl jedem klar, dass es um mich geht. Ich bin dementsprechend nervös und habe wenig Lust, mir das ganze anzuhören. Auf dem Weg in die Aula schaue ich mich immer wieder nach Izzie um, doch ich kann sie nicht entdecken. Ich könnte jetzt wirklich ein bisschen Trost von ihr gebrauchen. Auf meinem Platz in der hintersten Reihe angekommen, um nicht aufzufallen, gebe ich enttäuscht die Suche auf. Um mich herum wird es still, als ich mich setze. Von allen ernte ich betretene Blicke. Ich schließe die Augen und atme tief durch. "Das wird schon!", flüstert mir Chloe zu. 

Ich starre vor mich hin, als plötzlich ein Raunen durch die Reihen geht. Chloe stößt mir den Arm in die Rippen. "Jess! Hör auf zu träumen. Schau dir das an!" Ich richte meinen Blick auf die Bühne. Es dauert ein bisschen, bis ich die Person erkenne, die sich da vorne am Klavier zu schaffen macht. Mit einer weiten weißen Bluse und zerrissenen Jeans ist es das schönste Mädchen der Schule. Jetzt nimmt sie sich ein Mikrophon. Was hat sie vor? 

Sie beginnt zu sprechen. "Ich will kurz etwas sagen, bevor Herr Kurz seine Präsentation zum Thema Mobbing hält." Sie rollt mit den Augen, sodass es alle Schüler sehen. Ich muss lachen. "Ich habe viele Fehler gemacht in letzter Zeit. Dafür möchte ich mich entschuldigen. Ein wundervoller Mensch hat mir klar gemacht, dass ich aufhören muss, vor meinen Problemen und Gefühlen wegzulaufen." Ihr Blick sucht meinen. Mein Lächeln wird breiter. "Das hier ist für die Frau, die ich liebe." Meine Augen werden groß. Hat sie das gerade wirklich gesagt?  Das Getuschel um mich herum bestätigt mir, dass ich mich nicht verhört habe. Sie wirft mir noch ein unsicheres Lächeln zu. Dann setzt sie sich ans Klavier und beginnt zu spielen. Mir war nicht einmal klar, dass sie Klavier spielen kann. 

There were nights when the wind was so cold
That my body froze in bed
If I just listened to it
Right outside the window
There were days when the sun was so cruel
That all the tears turned to dust
And I just knew my eyes were
Drying up forever
I finished crying in the instant that you left
And I can't remember where or when or how
And I banished every memory you and I had ever made
But when you touch me like this
And you hold me like that
I just have to admit
That it's all coming back to me
 

So geht es noch fünf Minuten weiter. Ich kann es kaum fassen. Am ganzen Körper habe ich eine Gänsehaut. Ihre Worte kommen aus voller Seele und treffen mich mitten ins Herz. Die ganze Zeit über verharrt ihr Blick auf mir. Sie spielt den letzten Ton. Auf ihren Lippen bilden sich beinahe unmerklich die Worte: "Ich liebe dich." Kurz sehe ich sie wieder schreiend über mir knien, doch ich schüttele die Bilder ab. Jetzt kann ich diese Worte mit eine schöneren Erlebnis verbinden. Alle klatschen. Sie steht auf und geht zur Tür. Chloe schubst mich von der Seite. "Auf gehts! Hinterher mit dir." Unsicher schaue ich sie an, doch sie lächelt aufmunternd. Dann springe ich auf und renne hinaus. 150 Augen richten sich auf mich, aber das ist mir egal. Ich renne auf den Schulhof, sehe sie da stehen und rufe ihren Namen. Lachend läuft sie auf mich zu. Ich falle ihr in die Arme und sie küsst mich leidenschaftlich. Unsere Lippen verbinden sich. Ich fühle mich, als würden tausend kleine Feuerwerke in mir explodieren. Mein Herz droht stehenzubleiben, als alles um mich herum unwichtig wird. Es gibt nur noch sie und mich. Ihre Lippen auf meinen Lippen und ihre Hand in meiner Hand. 

She - Als mein Leben ins Wanken gerietWo Geschichten leben. Entdecke jetzt