"May, was zum Teufel steht da?"
Wenn man abends an den weißen Klippen steht, die Arme ausbreitet und die Augen schließt, dann hat man das Gefühl, man wäre frei von Sorgen und könnte einfach so durch die Welt flattern wie ein hübscher, bunter Schmetterling. Kommt aber plötzlich ein Windzug so kräftig, dass man ins Schwanken gerät, droht der komplette Absturz. Aber Wind an der Küste ist nun mal normal und das Gefühl der Freiheit ist schon bald vorbei. Es gibt gute Tage, an denen die Sonne scheint und schlechte Tage, an denen ein Unwetter über das Meer rennt. So etwas lässt sich nicht vermeiden. Und auf den Sonnenschein folgt das Gewitter. Das war schon immer so, nicht nur in der Wetterkunde. So spielt das Leben.
"May, bitte!", ich spürte wie Caitlin an meinem Arm rüttelte und ließ das Buch fallen. Es kam ungünstig auf dem Boden auf, sodass sich ein paar Seiten knickten. Aber das war mir egal. Meine Großmutter war die Mutter von Reed. Reed war mein Onkel, der Halbbruder meines Vaters, Gavins Halbbruder. König Holton musste es gewusst haben. All die Wut und die Trauer in seinem Gesicht beim Wiedersehen mit meiner Grandma waren nicht echt. All das war gespielt, nur um das Geheimnis auch geheim zu halten. Sie hatten alles geplant.
"Nein", meine Lippen pusteten dieses Wort lediglich in die Luft. Über einen sanften Windhauch kam es in Caitlins Ohr. Ich stand am Rand dieser Klippe und ein gewaltiger Orkan fegte über das ganze Land. Mein Blick war immer noch starr auf das Buch gerichtet, das offen auf dem Fußboden lag. Am liebsten würde ich springen.
"May", Caitlin quetschte sich am Bücherregal vorbei, blieb vor mir stehen und legte ihre Hände an meine Schultern, "Was steht in diesem Buch?"
"Reed ist mein Onkel", ich schaute in ihre hellblauen Augen, die sich in diesem Moment weiteten, als hätten sie eine Leiche gesehen. Jetzt fehlte nur noch der schrille Schrei und sie könnte in einem Krimi mitspielen. Ich würde mir jeden Sonntag Abend frei halten, um sie zu sehen. Garantiert.
"Du machst doch einen Scherz! Das ist unmöglich!", rief sie aus. Nah dran, aber nicht schrill genug.
"Dort steht es drin", ich wies auf das Buch, das sich noch nicht einen Millimeter bewegt hatte.
"Das geht nicht!", erwiderte sie und drehte sich von mir weg, um sich die Handfläche an die Stirn zu schlagen.
"Caitlin, was soll ich jetzt bloß tun? Weißt du überhaupt, was das bedeutet? Oh mein Gott. Wenn Reed das erfährt, sind wir alle verloren. Er kann den Dreizack alleine finden. Und warum zum Teufel hat er denn nicht dieses bescheuerte Kronenmal? Müssen das nicht alle Nachfahren Poseidons haben? Warum hat er es nicht?", meine Wörter überschlugen sich. Caitlin drehte sich um und hielt mir mit ihrer Hand den Mund zu. Dann sah sie mich eindringlich an.
"Das Mal haben nur Halbblüter. Frag mich nicht warum!", antwortete sie. Nun war ich verwirrt.
"Aber meine Großmutter hat doch auch so eins. Sie ist kein Halbblut", erwidere ich.
"Hat Gavin dir jemals unsere ganze Geschichte erzählt? Ein Halbblut Poseidons Abstammung ist selten, aber nicht abwegig. Ein Vollblut Poseidons Abstammung gibt es nicht, zumindest dachten wir das. Ich will mir gar nicht vorstellen, zu was Reed alles fähig wäre", die Angst in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
"Also ist meine Großmutter ein Halbblut, wie ich und du. Aber warum ist mein Vater denn kein Finman? Warum ich und nicht er?", hakte ich weiter nach. Ich hatte das Gefühl, Caitlin wüsste alles.
"Es kann schon mal vorkommen, dass das Gen eine Generation überspringt, vor allem weil deine Großmutter selbst auch nur ein Halbblut ist", meinte sie. Ich glaubte ihr, was hauptsächlich daran lag, dass ich das Thema der Genetik im Biologieunterricht noch nie so richtig verstanden hatte. Die Genetik am Finfolk zu erklären, war jedoch um einiges komplizierter.
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The Search for the Trident
FantasyDies ist der zweite Band der Finfolk-Reihe. Ich rate deshalb unbedingt, zuerst "The Secret of the Finfolk" zu lesen. --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- "...