Leise und schnell huschte sie von Schatten zu Schatten. Durch ihren schwarzen, schmutzigen Umhang verschmolz sie perfekt mit den Schatten. Die Kapuze des Umhangs hatte sie sich tief ins Gesicht gezogen, damit man sie nicht erkannte. Doch zur Sicherheit hatte sie auch noch ein Tuch um Mund und Nase gebunden. Da es recht kühl war, trug sie auch noch Handschuhe. Gerade war nicht sehr viel los auf dem Markt und sie hatte schon länger einen Marktstand im Visier. Dort wurden ein paar Rüben verkauft. Zwar sahen diese nicht mehr wirklich frisch aus, aber sie waren trotzdem noch genießbar. Ihr Magen knurrte. Seit vier Tagen hatte sie nichts anderes wie ein paar winzige Brotstückchen, die vom Abendbrot des Bürgermeisters zurückgeblieben waren, gegessen. Seit ihre Eltern vor 7 Jahren gestoren waren lebte sie bei dem Bürgermeister der Seestadt, doch sie hatte ihn und auch seinen Stellvertreter Alfrid schon immer gehasst. Sie arbeitete als Dienerin des Bürgermeisters, doch das tat sie nur, um nicht auf der Straße schlafen zu müssen. Der Bürgermeister war mehr als nur undankbar, er bezahlte ihr so gut wie gar nichts und Essen bekam sie ebenfalls nicht. Deshalb musste sie sich ihr Essen stehlen, da sie kein Geld hatte, um es zu bezahlen. Gerade war der Verkäufer der Rüben mit seinen Taschen, die sich hinter ihm befanden, beschäftigt. Jetzt war die Luft rein. Schnell und so leise wie möglich rannte sie auf den Marktstand zu, nahm sich zwei mittelgroße Rüben und rannte davon. Der Verkäufer hatte den Diebstahl allerdings doch mitbekommen und brüllte ihr nun wütend hinterher. ,,Ein Dieb, ein Dieb!", rief er, ,,Haltet ihn, er hat meine Rüben gestohlen!" Die Menschen wurden unruhig, doch die Diebin war schon längst verschwunden. Sie lief, zum Glück unentdeckt, bis ans andere Ende der Stadt. Sie sprang geschickt über zwei Boote und landete sicher auf einer Plattforn unter einem Haus. Dort hockte sie sich unter eine Treppe und nahm das Tuch um Mund und Nase ab. Vorsichtig sah sie sich um. Niemand war in der Nähe. Also nahm sie die erste Rübe und biss hinein. Sofort verzog sie das Gesicht. Diese Rübe schmeckte total bitter. Aber es war besser als nichts, weshalb sie trotzdem weiter aß. Dabei bemerkte sie nicht, dass ein Junge, etwa in ihrem Alter mit einem Boot herangefahren kam und dieses an einer der Stelzen, die das Haus über der Plattform stützten, festband. Als der Junge ausstieg, entdeckte er eine Gestalt unter der Treppe, welche zu dem Haus hinaufführte. Da er keine Waffe zur Hand hatte nahm er eines der Paddel in die Hand und schlich zur Treppe.
Die Diebin hatte den Jungen noch nicht bemerkt, zu sehr war sie auf das Essen konzentriert. Doch auf einmal stand er neben ihr. ,,Wer seid Ihr und was tut Ihr hier?", fragte der Junge. Sie fuhr erschrocken zusammen und wich ein Stück zurück, wobei ihr die Kapuze vom Kopf rutschte. Ein blasses Gesicht und mittelbraunes Haar kamen zum Vorschein, sowie blau-grau-grüne Augen. Erstaunt sah der Junge sie an. ,,Bitte, verrate mich nicht", flehte sie, nachdem sie ihre Stimme wiedergefunden hatte, ,,Sonst muss ich noch weiter hungern." ,,Also bist du der Dieb vom Markt", stellte der Junge fest und sie nickte zögernd. Der Junge musterte sie. Sie trug, neben dem schwarzen Umhang, eine beige Bluse, eine Ledercorsage, einen Rock, der aus verschiedenen Tüchern zu bestehen schien und abgenutzte, knöchelhohe Lederschuhe. (Kleidung im linken Bild. Denkt euch die ganzen Ketten und Armbänder einfach weg.) Und sie sah schon ziemlich abgemagert aus. Kurz sah der Junge sich um. ,,Komm, im Haus ist es wärmer wie hier draußen", sagte er schließlich. Doch die Diebin rührte sich nicht von der Stelle. ,,Ich verrate dich nicht, glaube mir", meinte der Junge, ,,Ich sehe, dass du ziemlich mager bist. Meine Schwester hat Suppe gekocht und davon wird sicher noch etwas übrig sein." Zögernd stand die Diebin auf. Der Junge legte das Paddel zurück ins Boot und lief dann die Treppe nach oben. Die Diebin folgte ihm noch immer etwas zögernd. Am oberen Ende der Treppe öffnete der Junge eine Tür und trat ein. Sie blieb unsicher davor stehen und sah in den Raum hinein. ,,Bain, wo warst du?", fragte ein Mädchen, dass ungefähr zwei Jahre älter war wie der Junge, ,,Wir haben uns Sorgen gemacht." ,,Ich war nur mit dem Boot unterwegs und habe mich noch kurz auf dem Markt umgesehen", entgegnete der Junge, dessen Name offensichtlich Bain war. ,,Wenn Vater erfährt, dass du einfach abhaust, wird er wütend", meinte ein 7 jähriges Mädchen, das hinter einem Bett hervorgekommen war. ,,Er muss es ja nicht erfahren", entgegnete Bain. Das ältere Mädchen schüttelte nur den Kopf und wandte sich wieder der Wäsche zu. ,,Wer ist das denn?", fragte das kleine Mädchen und lief neugierig näher zu der Tür, vor der noch immer die Diebin stand. Verwirrt drehte sich das ältere Mädchen wieder um, musterte die Diebin kurz und sah dann fragend zu Bain. ,,Ich habe sie unter der Treppe gefunden und hatte Mitleid mit ihr", erklärte Bain, ,,Seht doch, wie mager sie ist." ,,Wir haben noch Suppe", meinte das kleine Mädchen und zog die Diebin kurzerhand durch die Tür. ,,Bain, ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist", meinte das ältere Mädchen skeptisch. ,,Bitte Sigrid", flehte das kleine Mädchen. Sigrid seufzte. ,,Dieses eine Mal", meinte sie, ,,Aber nur weil ihr meine Geschwister seid." ,,Setz dich hin", sagte das kleine Mädchen und deutete auf einen der Stühle, die um den Tisch herum standen. ,,Nicht so stürmisch, Thilda", meinte Sigrid, die Suppe in eine Schale füllte. Die Diebin lächelte die kleine Thilda an, zog ihre Handschuhe aus und ließ sich von ihr zu einem der Stühle führen. Kaum hatte sie sich gesetzt, stellte Sigrid eine Schale mit dampfender Suppe vor sie, reichte ihr einen Löffel und sogar ein kleines Stück Brot. Die Diebin nahm alles dankend an und begann sofort zu essen. Es tat gut, endlich wieder eine richtige Mahlzeit zu sich zu nehmen. Sie schlang die Suppe und das Brot hinunter. Danach fühlte sie sich nach Jahren endlich wieder halbwegs satt. ,,Vielen Dank", sagte sie, ,,Nach Jahren verspüre ich endlich keinen nagenden Hunger mehr." ,,Nach Jahren?", fragte Sigrid geschockt. Die Diebin nickte nur. ,,Wie heißt du eigentlich?", meldete sich nun wieder Bain zu Wort, ,,Unsere Namen kennst du ja bereits." Kurz zögerte sie, nannte schließlich aber doch ihren Namen. ,,Ich heiße Gwyneth", sagte sie. ,,Warum hungerst du schon jahrelang?", fragte Bain, ,,Mir ist zwar bewusst, dass es in dieser Stadt generell wenig zu Essen gibt, aber trotzdem hat jeder wenigstens ein kleines bisschen davon." Gwyneth schnaubte verächtlich. ,,Was glaubst du wie viel Essen man bekommt, wenn man die Dienerin dieses undankbaren Schweins von Bürgermeister ist?", fragte sie. Sigrid zog scharf die Luft ein und ging mit Thilda in eine andere Ecke des Hauses, während Bain sie erstaunt ansah. ,,Du...du bist die Dienerin des Bürgermeisters?", wiederholte er schließlich. Gwyneth nickte. ,,Wenn meine Eltern noch am Leben wären und wir noch in unserem Haus leben würden, wäre ich es nicht", erklärte sie, ,,Aber so habe ich wenigstens ein Dach über dem Kopf. Allerdings bekomme ich für meine Arbeit so gut wie kein Geld und nichts zu essen. Wenn etwas von den Mahlzeiten des Bürgermeister übrig bleibt, nimmt Alfrid mir alles weg. Um zu überleben, stehle ich mir mein Essen auf dem Markt. Ich tue es nicht gerne, aber es muss sein." Bain nickte verstehend. Jetzt öffnete sich eine weitere Tür, die offenbar die Haupteingangstür war und ein Mann trat ein. ,,Vater", rief Thilda erfreut und rannte auf den Mann zu. Dieser hob sie kurz hoch, drückte sie an sich und setzte sie wieder auf dem Fußboden ab. Auch Sigrid wurde von dem Mann, der Vater der drei Geschwister, kurz umarmt. ,,Heute bist du ziemlich spät, Vater", meinte Bain und ging auf seinen Vater zu. ,,Das habe ich wohl Alfrid zu verdanken", meinte der Vater, ,,Er hat es mal wieder nicht lassen können, mir alles mögliche in die Schuhe zu schieben. Diesmal behauptete er sogar, ich sei der Dieb auf dem Markt." Bain und seine Schwestern sahen daraufhin zu Gwyneth, die seelenruhig auf dem Stuhl saß. Der Vater der drei entdeckte sie nun ebenfalls. ,,Hallo Bard", sagte sie nur. ,,Ich wüsste nicht, dass wir uns kennen", entgegnete dieser skeptisch. ,,Ihr kennt mich vielleicht nicht, aber ich kenne Euch", erklärte Gwyneth, ,,Zwar hauptsächlich von den 'Beschwerden' des Bürgermeisters, aber ein paar Mal habe ich Euch auch schon gesehen." Jetzt schien Bard zu begreifen, wer sie war. ,,Dann bist du wohl das Dienstmädchen des Bürgermeisters", meinte er und Gwyneth nickte. Bards Blick fiel auf die zwei Rüben, die Gwyneth neben sich auf den Tisch gelegt hatte. ,,Aber du scheinst nicht nur als Dienstmädchen tätig zu sein", sagte er, ,,Sondern auch als Diebin." Seine Stimme hatte einen drohenden Tonfall angenommen, der Gwyneth gar nicht gefiel. Offensichtlich war Bard überhaupt nicht davon begeistert, dass sie hier war. ,,Ich habe doch gesagt, dass es wahrscheinlich keine gute Idee war, sie in unser Haus zu lassen", meinte Sigrid. ,,Hattest du denn kein Mitleid mit ihr?", fragte Bain seine große Schwester. ,,Ich stehle nur, um zu überleben", rechtfertigte sich Gwyneth, ,,Ich bekomme kein Essen und so gut wie kein Geld. Wenn ich mein Essen nicht stehlen würde, wäre ich schon längst verhungert." ,,Ich habe schon genug Schwierigkeiten mit Alfrid und dem Bürgermeister", meinte Bard, ,,Eine Diebin in meinem Haus kann ich nun wirklich nicht gebrauchen. Denn das bringt nur noch mehr Ärger." Gwyneth wurde langsam wütend. Bard galt doch immer als Beschützer und Wohltäter des Volkes. Warum also wollte er sie verjagen. Zwar war sie eine Diebin, doch niemand hatte sie bisher erkannt, wenn sie etwas stahl. ,,So viel zum Thema Beschützer und Wohltäter des Volkes", sagte sie und stand auf, ,,Auch ich gehöre zum Volk, falls Euch das entgangen sein sollte. Aber wenn Ihr mich unbedingt loshaben wollt, werde ich sofort gehen." Sie nahm die Rüben, und steckte sie unter ihrem Umhang in eine kleine Stofftasche. ,,Danke für die Suppe", sagte sie an Sigrid gewandt. Diese nickte nur kurz. ,,So hatte ich das nicht gemeint", sagte Bard. Gwyneth zog eine Augenbraue hoch. ,,Nein?", fragte sie, ,,Dann solltet Ihr aber dringend an Eurem sarkastischen Unterton arbeiten. Bis dahin werde ich dieses Haus aber vorerst verlassen." Mit diesen Worten öffnete sie die Hintertür, durch die sie und Bain das Haus betreten hatten und sprang regelrecht die Treppe hinunter. Bard war allerdings nicht entgangen, dass sie zwei kleine Kerzenhalter hatte mitgehen lassen. Er rannte Gwyneth hinterher, doch als er auf der Plattform unter seinem Haus ankam, war sie schon längst verschwunden. ,,Verdammte Diebin", fluchte er und ging zurück ins Haus. Dort sahen ihn seine drei Kinder erwartungsvoll an. ,,Sie ist weg und sie hat auch noch etwas mitgehen lassen", sagte er, ,,Versprecht mir eins: Solltet ihr ihr irgendwann wieder begegnen, sprecht kein einziges Wort mit ihr. Diebe sind auch ausgezeichnete Lügner."
DU LIEST GERADE
Die Diebin von Esgaroth
FanfictionGwyneth ist 16 Jahre alt und lebt in Esgaroth, östlich des Düsterwaldes. Allerdings hat sie weder Familie, noch ein Haus. Zudem ist sie (leider) die Dienerin des Bürgermeisters. Da sie von diesem aber so gut wie kein Geld und nie etwas zu essen beko...