49. Kapitel

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49. Kapitel – Was willst du?

Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden.
-Johann Wolfgang von Goethe

Lilly

Bereits seit einer Woche ging ich wieder in die Schule. Hanna hatte sich ganz und gar nicht wohl gefühlt, als ich auf sie getroffen war. Das hatte ich ihr angesehen. In ihren Augen, die mich laut um Vergebung baten, an ihren Händen, die leichte zitterten und an ihrer geknickten Haltung, die schon an sich Bände sprach. Sie hatte gesagt, wie Leid es ihr täte, dass sie es aber einfach nicht übers Herz gebracht hatte, mich zu besuchen. Ich hatte sie einen langen Moment angesehen und dann gesagt:

„Schon in Ordnung. Ich verstehe das. Ich weiß nicht, ob ich es geschafft hätte, zu dir zu kommen, wenn es andersrum gewesen wäre."

Hanna hatte mich gequält angelächelt und gemeint:

„Das ist es ja. Du hättest es getan. Egal wie schlimm es für dich gewesen wäre. Weil du stark bist. Weil du du bist. Aber ich, ... ich konnte nicht."

Sie hatte fast geweint, aber ich hatte sie in den Arm genommen, um es zu verhindern.

„Es ist okay", hatte ich gemurmelt, während sie immer wieder nickte und sagte, dass es ihr Leid täte.

Seitdem hatten wir wieder viel Zeit miteinander verbracht. Hanna hatte mir geholfen, den Rest der Beerdigung vorzubereiten und mich zum Lachen gebracht, obwohl ich nur noch weinen wollte. Meine Eltern hatten in meiner „Abwesenheit" das meiste geregelt, beziehungsweise das Militär hatte es getan, aber das Wichtigste war natürlich vergessen worden: Die Gäste, die Trauerfeier und die Blumen. Also hatte ich mich darum gekümmert.

Ich hatte Hanna alles von Kyle, Alex und meiner Familie erzählt. Und eine Sache stellte sich dabei sehr deutlich heraus: Sie war der beste Therapeut, mit dem ich je gesprochen habe. Das Reden half mir, sie half mir.

Kyle sah ich drei Mal, während ich von Alex nichts hörte. Ich fragte sogar meinen Vater, ob er ihn auf dem Stützpunkt gesehen hatte, aber das hatte er in den Jahren zuvor auch nie. Das Gelände war groß, ebenso wie die Anzahl der dort stationierten Männer. Langsam ging mir die Situation mit Alex an die Nieren. Es nagte an mir, nicht zu wissen was los war. Ich rief ihn bestimmt hunderte Male an, hinterließ ihm dutzende Nachrichten und schickte ihm beinah täglich eine SMS. Aber er reagierte nicht. Kein einziges Mal.

„Verdammt Alex", murmelte ich, als ich zum wiederholten Mal versuchte, ihn zu erreichen.

Er ging nicht ran. Natürlich nicht. Ich blickte von meinem Handy auf und sah in meinen Spiegel. Seit meinem Krankenhausaufenthalt hatte ich wieder zugenommen, sah gesünder aus und versuchte meinen Stress mit Sport zu kompensieren. Aber ich konnte mir nicht länger etwas vormachen. Es gab nur eines, das mir helfen konnte. Nur ein Mensch, der dafür sorgen könnte, dass es mir besser ginge.

Entschlossen stand ich auf, schob mein Handy in die Hosentasche, nahm mir die Autoschlüssel und zog mir eine dünne Weste über. Als ich durch das Wohnzimmer zur Tür lief, rief meine Mum:

„Wo willst du hin?"

Ich hielt inne und schaute sie eine Weile an. Mein Dad deutete meinen Blick anscheinend richtig, denn er sagte nur:

„Fahr vorsichtig" und rettete so meine Mutter davor, dass ich einen Wutanfall an ihr ausließ, der schon lange überfällig war.

Seit ich wieder zu Hause war, wollte ich sie anschreien. Wollte ihr sagen, wie sehr es mich verletzt hatte, dass sie damals nichts getan hatte. Wollte ihr sagen, dass ich nicht glauben konnte, dass sie mir das wieder angetan hatte. Das sie mich wieder mit allem alleine gelassen hatte, während sie sich in ihr Schneckenhaus zurückzog. Mir war egal, ob sie ein Recht darauf hatte oder nicht. Ich hatte sie gebraucht und sie war nicht da gewesen. Schon wieder!

Ich rang meine Wut nieder, hob kurz zwei Finger in die Luft und verschwand nach draußen, wo ich dennoch einige Male tief durchatmete, um mich und meinen Puls zu beruhigen.

Während der ganzen Fahrt über, dachte ich an Alex. Immer wieder kamen mir Fragen über Fragen in den Sinn und ich fand mal wieder keine einzige Antwort. Eine sehr frustrierende Angelegenheit. Ich kam mir vor, als könnte ich plötzlich nicht mehr 2 und 2 zusammenzählen. Vielleicht stimmte das sogar. Vielleicht war die Antwort direkt vor meiner Nase und ich sah sie nicht.

Ich parkte vor dem Haus und saß eine halbe Ewigkeit im Wagen, ehe ich ausstieg. Ich war so unsicher, ob das was ich vorhatte, eine gute Idee war. Was, wenn man mich gar nicht herein ließe? Was, wenn man mich anschrie? Was, wenn ich unerwünscht war? Was, wenn .... Es half nichts. Ich musste hineingehen und es herausfinden. Vom dumm in der Gegend herum sitzen würde ich auch nicht schlauer werden. Höchstens dümmer. Wer konnte schon sagen, wie viele Gehirnzellen man verbrauchte, um sinnlosen Fragen nachzugehen?

Zähne knirschend ging ich zur Tür und klingelte. Nervös knackte ich mit den Fingern. Eine schlechte Angewohnheit, wie Alex mir immer wieder versicherte. Es wurde geöffnet. Schnell lief ich die Treppen hoch und klopfte an die Tür. Nichts. Wieder klopfte ich. Nichts. Ich hämmerte mit den Fäusten an das harte Holz.

„Was?", fragte eine barsche Stimme, als endlich die Tür aufging.

„Wir müssen reden", sagte ich und lief an ihm vorbei in die Wohnung.

„Komm doch rein", sagte er mit sarkastischem Unterton.

Ich lief direkt ins Wohnzimmer und blieb dort mitten im Raum stehen. Er folgte mir, verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich herausfordernd an, als er im Türrahmen stehen blieb.

„Was ist?", fragte er beinah schon genervt, was mir einen Stich ins Herz versetzte.

Hilflos warf ich die Arme in die Luft:

„Rede mit mir!", rief ich ihm entgegen.

„Worüber sollten wir da reden?", fragte er kalt.

Verärgert schüttelte ich den Kopf. Wie konnte ein Kerl nur derartig stur sein? Ach richtig. Wir redeten hier von einem Mann. Natürlich war er stur.

Er lief an mir vorbei zum Sofa und setzte sich hin. Es liefen dieselben Nachrichten im Fernseher, wie bei mir zu Hause. Statt mich anzusehen, starrte er auf den Bildschirm. Das konnte doch nicht wahr sein! Ich lief hin, nahm ihm die Fernbedienung ab und drückte auf den roten Knopf.

„Was fällt dir ein?", fragte er aufgebracht.

„Was fällt dir ein?", fragte ich zurück und knallte die Fernbedienung auf den Tisch, welcher ein unangenehmes Geräusch von sich gab.

Eine Delle mehr oder weniger würde dem alten Ding auch nicht mehr schaden. Er erhob sich, stellte sich dicht vor mich und funkelte mich wütend an. Ich befürchtete schon, dass er mir eine knallen würde, als er tief ein- und ausatmete, so wie Leo es immer getan hatte. So wie ich es immer noch tat. Es war ein Kontrollmechanismus, um Wutanfälle unter Kontrolle zu bekommen. Er sah mich an. Ich sah zurück.

„Was willst du von mir?", fragte er erneut.

The New MeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt