73. Kapitel

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73. Kapitel – Geheimnisse über Existenzen

Jeder ist ein Mond und hat eine dunkle Seite, die er niemandem zeigt.
- Mark Twain

Am meisten fühlt man sich von der Wahrheit getroffen, die man sich selbst verheimlichen wollte.
- Friedl Beutelrock

Eleonore

Es war lange her gewesen, dass ich dieses Haus zum letzten Mal betreten hatte. Abgesehen von dem Tag, an dem Lilly den Zusammenbruch hatte. Damals hatte ich mich praktisch nicht umgesehen. Zu schmerzlich waren die Erinnerungen. Außerdem war ich viel zu besorgt um meine Tochter gewesen. Ich hatte solche Angst um sie gehabt. Als ich sie in Annas Bett mit blutüberströmten Händen liegen sah, konnte ich mich keinen Zentimeter bewegen, bis John mich anschrie. Das Bild, das sich mir damals bot, war einfach furchtbar. Mir kam sofort der Tag in den Sinn, als Anna starb. Und Lilly daneben lag.

Meine Tochter. Da lief sie vor mir her und war plötzlich eine junge Frau und kein Kind mehr. Wo waren nur die Jahre geblieben? Wann war sie nur so reif geworden? So verantwortungsbewusst? Wann war sie so viel besser als wir alle geworden? Wann hatte sie angefangen ihre eigenen Entscheidungen zu treffen? Ich schätzte, die Antwort lautete: vor langer Zeit.

„Setz' dich", meinte Lilly plötzlich und riss mich aus meinen Gedanken.

Sie deutete auf das Sofa. Ich folgte ihrer Aufforderung. Nervös ließ ich mich in die Polster sinken. Lilly stand vor mir und sah mich abwartend an. Sie war wütend und verletzt. Das konnte ich sehen, sogar spüren. Und es tat höllisch weh. Wir hatten schon häufig unsere Differenzen gehabt, aber so schlimm war es noch nie gewesen. Ich liebte Lilly, sie bedeutete mir mehr als mein Leben und vermutlich war genau das der Grund, weshalb ich mich ihr gegenüber so verhalten hatte. Ich hatte solche Angst, sie zu verlieren. Und davor, ihr die Wahrheit zu sagen. Denn ich hatte keine Ahnung, ob diese Familie ein weiteres Geheimnis überstehen würde. Aber was hatte ich noch zu verlieren?

Ich hatte bereits zwei Kinder verloren und war kurz davor auch mein letztes endgültig zu verlieren. Das konnte ich nicht riskieren.

„Also?", Lilly setzte sich mir gegenüber auf das andere Sofa.

Ihre Haltung war gerade und sehr selbstbewusst. Ihre Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, dennoch fielen ihre Haare von hinten nach vorne über die Schulter. Sie reichten ihr mittlerweile bis über die Brust. Ihre Gesichtszüge waren mit den Jahren feiner geworden und der wenige Babyspeck, den sie einmal gehabt hatte, hatte sich lange verwachsen. Sie war genauso schön, wenn nicht sogar schöner als Anna. Meine verstorbene Tochter. Meine einzige Tochter.

„Bitte öffnen sie die Tür. Hier ist die Polizei!"

Sie hämmerten mit Fäusten an die Tür. Ich lief schnell und mit pochendem Herzen hin und öffnete die Tür.

„Ja bitte?", fragte ich ängstlich und sah die beiden jungen Männer an.

„Sind sie Annas Mutter?", fragte einer von ihnen mich ernst.

„Ja?"

Ich traute mich nicht zu fragen, was passiert war. Zu sehr fürchtete ich die Antwort.

„Würden Sie uns bitte begleiten?", forderte mich einer der uniformierten Beamten auf.

„Wohin?", wollte ich wissen.

„Ins Krankenhaus", antwortete er und führte mich zu dem Wagen.

„Warum?"

Er antwortete mir nicht, sondern deutete einfach nur auf die geöffnete Tür. Ich wurde wütend. Er musste mir doch sagen, was mit meinem Kind war! Ich packte ihn an seiner Jacke und schrie beinah, als ich wiederholt fragte:

The New MeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt