69. Kapitel

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69. Kapitel - Nächtliche Aussicht

Der Tod ist so lange unwirklich, bis er einem zum ersten Mal die Hand schüttelt.

- K.M.

Ich hatte nie über den Tod nachgedacht. Wenn man ein Kind ist, dann beschäftigt man sich nicht damit. Man glaubt, dass alle immer da sein werden. Dass der Tod zwar existiert, einem aber nichts anhaben kann. Man glaubt, dass die Familie einen nie verlässt. Dass man nie alleine sein wird. Bis der Tod mit voller Wucht an die Tür klopft und sie eintritt, um sich zu holen, wen immer er will.

Ich hatte Annas Tod überlebt. Den meiner Brüder, Leos Kameraden. Ich hatte das Verschwinden meines Bruders überlebt. Seinen Tod. Aber überleben hieß nicht leben. Eine Redensart, die ich schon sehr früh zu verstehen gelernt hatte. Leo hatte mir wieder beigebracht zu leben. Und ich wusste, dass ich ihn gerettet hatte. Aber dieses Wissen machte es nur umso schwerer. Wofür hatten wir solange gekämpft, wenn letzten Endes doch nur ich übrig war? Wofür hatten wir gelitten, wenn alles umsonst gewesen war? Wieso war ich noch hier? Wieso nicht einer von ihnen? War das alles eine Art kranke Todesliste? Von der Ältesten zur Jüngsten?

All diese Fragen führten nirgendwo hin. Denn es gab keine Antworten. Das Leben war, wie es war. Und der Tod gehörte dazu. Früher hatte ich ihn mir als eine Art bösen Engel vorgestellt. Ich glaubte, dass wenn unsere Zeit gekommen war, er uns holen würde. Einfach unsere Seele rauben und fortbringen würde, ob wir nun so weit waren oder nicht. Ich glaubte, dass Anna ihn bestimmt bekämpft hatte. Dass sie noch bleiben wollte. Aber als Leo mir erzählte, dass sie gewusst hatte, dass sie krank war, hörte ich damit auf. Meine Vorstellung starb und mit ihr mein Glaube. Mein Glaube daran, dass alles einen Sinn hat. Jahrelang hatte ich nach dem Sinn in Annas Tod gesucht und glaubte, ihn gefunden zu haben. Aber mit der Wahrheit kam auch die Erkenntnis, dass die Dinge einfach passierten. Egal, wie furchtbar sie auch waren.

Ich wusste, dass meine Liebe zu meinen Geschwistern mich noch einmal umbringen würde. Aber sie waren ein Teil von mir. Ein Teil, den ich nie verleugnen würde. Ein Teil, für den ich immer kämpfen würde. Meine Liebe zu Anna hatte mich fast verhungern lassen. Meine Liebe zu meinem Bruder hatte mir sogar noch Schlimmeres angetan. Aber ich hatte es gerne ertragen, weil es mir sagte, dass sie hier waren. Dass sie existierten und nicht bloß eine Einbildung waren, auch wenn ich das an manchen Tagen dachte.

Meine Eltern hatten nie angemessen getrauert. Sie hatten mich gezwungen, meine Trauer alleine zu verarbeiten und ich wäre beinahe daran zugrunde gegangen. Trotzdem hatte es nichts geändert. Sie verhielten sich wie immer. Es war grausam mit anzusehen, wie sie alle Fotos entfernten. Mitzuerleben, dass sie nie sagten, dass sie eigentlich drei Kinder hatten. Zu spüren, dass sie am liebsten um sich schlagen würden, es aber nie tun würden. Wie oft hatte ich versucht, mit ihnen darüber zu sprechen und wie oft war ich daran gescheitert? Wie oft hatte ich geweint, weil ich wollte, dass es ihnen wieder besser ging? Wie oft hatte ich mir gewünscht, an Annas Stelle zu sein? Dass sie noch hier war und nicht ich.

Ich war zum Strandhaus gefahren um Entscheidungen zu treffen. Meine erste Entscheidung war einfach: Ich würde meinen Eltern von meinem Entschluss erzählen und am Samstag ausziehen. Vielleicht war es das Beste für alle. Dann könnten meine Eltern auch mich verleugnen, dachte ich sarkastisch.

Meine zweite Entscheidung betraf den Einsatz im Irak. Ich würde mitgehen und alles in meiner Macht stehende tun um die sterblichen Überreste meines Bruders zu finden. Aber ich würde zurückkommen. Ich würde mich nicht töten lassen. Unter gar keinen Umständen.

Meine dritte Entscheidung war auch die Schwierigste. Sie betraf Alex. Erst dachte ich, es ginge darum, ihm zu sagen, dass ich gehen würde. Dass er es überleben würde, genau wie ich. Dass er sich keine Sorgen machen müsste. Aber ich musste feststellen, dass ich mich irrte. Meine Entscheidung betraf nicht mein Vorhaben und es vor ihm zu rechtfertigen. Es betraf uns. Ich musste mir eingestehen, dass ich ihm das nicht antun konnte. Ich konnte nicht gehen und ihn bitten, sich keine Sorgen zu machen. Zu warten, dass ich unversehrt zurückkam. Ich musste es beenden, bevor ich ihn noch mehr verletzte. Ich musste ihn freigeben. Von dem Militär, meiner Familie. Von mir. Er sollte nicht gebrochen werden, so wie ich.

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