Ein Leben

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Es ist dunkel und kalt. Zudem ist auch noch schlechte Luft in Leones Zimmer. Das bisschen Licht, dass durch die geöffnete Tür in das Zimmer fällt, zeigt viele Hefte und lose Zettel auf dem Boden liegen. Manche Zettel sind zerknüllt, andere zerissen und ein paar Hefte sind angekokelt. Wie konnte sie in diesem Zimmer nur leben? Es ist lange her, dass sie ihr Zimmer zum letzten mal betrat. Niemand anderes durfte hinein. "Es ist mein Leben und da entscheide ich, wer es betreten darf und wer nicht." Diesen Satz sagte das junge Mädchen sehr oft. Mal voller Freude, dann Wut entbrannt und beim nächsten mal in Trauer versunken. Sie war sehr emotional und zudem auch noch launisch, aber stets hilfsbereit und bescheiden. Viele fanden es süß, wenn sie ihren Kopf senkte und sich auf die Unterlippe biss, weil sie etwas sagen wollte und es sich doch nicht traute. Leone war schüchtern und zu jenem Zeitpunkt war sie zu schüchtern.
Darum ging es schnell bergab. Sie fing an sich zu verändern, aber nicht im positiven Sinn. Ihre langen weißen Haare, die ihr bis in die Kniekehlen reichten, färbte sie in einem knalligen Lila und schnitt sie bis zur Mitte ihres Rückens ab. Kleider trug Leone dann nie wieder. Nur noch zerissene Jeans und locker an ihrem schlanken Körper runterhängende Shirts. Das war die neue Leone. Doch eine Sache blieb immer gleich: ihre Persönlichkeit. Das niedliche, schüchterne, brave und kleine mädchen wurde sie nie los. Niemand nahm sie als solches ernst. Aber auch die neue Leone wurde nicht ernst genommen. Jeder hackte auf ihr herum. Eltern, Leherer, Freunde und Fremde. Immer machte sie etwas falsch und als sie ihren Style änderte, wurde alles nur noch schlimmer. Sie fing an sich zurück zu ziehen, in eine Welt, die nur Menschen betreten durften, denen das junge Mädchen es erlaubt hatte. Diese Welt bestand aus Blättern, Tinte und Buchstaben. Diese wurden zu Wörtern, die wiederum zu Sätzen wurden und letztendlich zu einer Geschichte . Ihre Welt bestand aus dem Schreiben von Geschichten. Sie schrieb von Träumen, welche sie hatte. Sie schrieb einfach ihre Gedanken auf. Wie zum Beispiel in dieser Geschichte, wo sie über das Fliegen schreibt:

"Menschen können nicht fliegen. Das ist so und das bleibt so." Das habe ich oft gehört. Immer und immer wieder, aber keiner konnte es mir beweisen. Ich weiß nämlich, dass das nicht stimmt, da ich fliegen kann. Jeden Tag fliege ich über Wälder, Wiesen, Meere und sogar über ganze Kontinente. Die Leute, die mir nicht glauben, aben einfach zu wenig Fantasie, einen zu kleinen Kopf und vor allem zu viele Sorgen. Wer fliegen will, muss alles vergessen können, muss alles gehen lassen, muss nur an sich denken. Man darf nicht an der Gegenwart hängen bleiben, nicht in der Vergangenheit festsitzen und nicht in die Zukunft fliehen. Man muss weg. Weg in eine andere Welt. In die Welt der Fantasie, der Träume, der Wünsche und der Hoffnung. Nur so kann man Fliegen. Wenn ich fliegen will, gehe ich einfach in mein Zimmer. Dort bin ich allein. ort ist es dunkel und einsam. Wie in einem Gefängnis, aus dem ich nie wieder heraus kann. Wer einmal anfängt hier zu fliegen, kommt nie wieder davon weg. Ich fliege imer über das Papier. Mit Tinte und Feder. Und schon hebe ich ab. Ich schwebe über unser altes Haus. Ich schwebe über den Wald. Ich schwebe über alles, was mir lieb ist. Alles, was ich verloren habe. darüber kann ich fliegen. In der Hoffnung, dass es niemals wieder so wird. Nur diese Hoffnung lässt mich fliegen. Machmal stürze ich aber auch ab. In ein Meer, das hohe Wellen schägt. Immer herrscht dort Sturm. Immer klingen die verzweifelten Schreie geliebeter Person darüber. Jede Wellebesteht aus milliarden von Tränen. Jede Träne floss für eine bestimmte Person, die nun im Meer der Tränen ertrunken ist. Und dann wache ich auf. Dann ist alles vorbei. Der Horror vom Fliegen und der Traum vom Stürzen haben ein Ende. Ich frage mich, ob andere genauso denken. Haben andere auch so ein Gefängnis, das aus wirren Vorstellungen besteht? ich werde es niemals erfahren. Dafür bin ich zu schüchtern. Ich spreche ja mit niemandem, vertraue niemandem, kann niemandem in die Augen sehen. Warum bin ich so ein schlechter Mensch? Nie wird jemand erfahren, was passiert ist. Nie. Und das ist auch gut so.

Ob Leone Freunde hatte? Hatte sie Familie? Was ist dieses Gefängnis? Und was meint sie mit dem Horror vom Fliegen und dem Traum vom Stürzen? Müsste es nicht andersherum sein? Sie wird es uns nie sagen.

Life in a dark roomWo Geschichten leben. Entdecke jetzt