Kapitel 7

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Vielleicht überdenke ich meine Einstellung zu Freundschaft ja nochmal und gebe den beiden eine Chance? Es klang sehr verlockend. Richtige Nähe hatte ich in den letzten Jahren nur noch von Melissandra und meinem Hund. Ich fühlte zum ersten Mal seit langem Sehnsucht danach. Vielleicht hatte ich sie auch nur unterdrückt, was mir wahrscheinlicher erschien.
"Du wirst sicher nur wieder verletzt, wie früher. Wäre es das Risiko wert, so kurz vor dem Abitur eine Last auf die Schultern geladen zu bekommen, die es erschwert?", meldeten sich meine Vernunft und mein Gehirn bei meinem Herzen.
Mehr Zeit, darüber nachzudenken schenkte man mir nicht.
"Hey, wir warten auf dich!", rief Marleen, ein spöttisches Grinsen auf den Lippen. Als sähen die nicht, dass ich einen erbitterten Kampf mit meinem Rucksack führe!
"Jaja moment, dieser verdammte Reißverschluss klemmt!", knirschte ich hervor, an dem Ding ruckelnd. Das kommt wohl davon, wenn man einen 5€ Rucksack aus irgendeinem beliebigen Laden nimmt. Ich bräuchte echt mal was Besseres.
"Toll, jetzt ist er ganz abgebrochen!", knirschte ich weiter, den abgebrochenen Schieber in der Hand.
"Milena, mach doch nicht immer alles kaputt!", meckerte Lennart gespielt genervt, genauso spöttisch.
"Immer? Ihr kennt mich erst seit 90 Minuten!", muffelte ich.
"Kann man doch mit 'immer' gleichsetzen!", meinte er kichernd.
Darauf ging ich nicht weiter ein, sondern deutete einen Kick in seine Richtung an. Wir Drei lachten belustigt.

Als vorläufige Lösung packe ich mir den Rucksack umgedreht auf den Bauch und hielt ihn fest, um zu verhindern, dass etwas rausfällt. Toll, ich mach mich hier gleich zum Affen. Aber was solls.

Auf dem Weg auf den Hof erkundigte ich mich mal nach den Fächern der beiden. Ob wir außer Musik noch irgendwo gemeinsam Unterricht haben. "Ich kenne ja außer euch bisher niemanden", gestand ich.
"Ach ist doch kein Problem, wir sind seit fünf Jahren auf der Schule und kennen nicht mal ein Drittel der Namen hier.", erzählte Lennart mit einer wegwerfenden Handbewegung.

"Na dann sehen wir mal", murmelte ich, als wir draußen in einem engen Kreis mit den Stundenplänen in der Hand standen. Zum Glück hat es aufgehört zu regnen.
Es stellte sich heraus, dass ich Sport, Chemie und Englisch mit Lennart, Französisch und Geschichte mit Marleen und Biologie, Musik und Mathe mit beiden habe. Na das ist doch schon mal gut.

Eine kreisförmige Bank veranlasst uns, uns hinsetzen zu gehen. Sie ist jedoch klatschnass und von den Bäumen über uns tropft es.
Meinem Rücken hätte das Sitzen gefallen.... Der mag nicht lange stehen oder gehen und meldet sich dann durch Schmerzen - wie jetzt gerade. Ich bin Jahre lang gebückt durch die Gegend gelaufen, um niemandem in die Augen sehen zu müssen. In einer Wachstumsphase ist das erfahrungsgemäß nicht so optimal, da die Wirbelsäule nach vorne gekrümmt weiter wächst.
Der Rucksack, unbequem auf meinem Bauch, machte es auch nicht besser. Autsch.

Als wir ein geschrienes "RELAXO!" vernahmen, zückten wir Drei wie auf Kommando unsere Handys, um zu es zu fangen. Offensichtlich haben wir die Gemeinsamkeit, Pokémon Go zu spielen.
Es ertönte ein "VERARSCHT!" aus der gleichen Richtung.
Und ein "BOAH NEE", aus allen möglichen.
Lennart, Marleen und ich schauten uns bedäppert an.
"Haha, spielt ihr auch?", fragte ich leicht amüsiert.
Sie bejahten die Frage wie aus einem Mund.
"Welches Team?", fragte ich.
Beide antworteten: "Rot"
"Yeah, ich auch!", regte ich mich vor Freude auf. Wir gaben uns gegenseitig ein High Five.
Wir fingen noch die umliegenden Pokémon und packten unsere Handys weg, nachdem ich ihnen meine Nummer gegeben habe. Marleen musste ja so niedlich fragen.

Da ertönte der Gong und Lennart und ich verabschiedeten Marleen zu ihrem Kunstunterricht, während wir die Treppen zu Raum 45 hochsprinteten. Jetzt steht Englisch auf dem Plan. Im Gegensatz zu ihm war ich völlig aus der Puste. Jeder Atemzug schmerzte. Ja ich weiß, meine Ausdauer ist nicht die Beste... Training hilft irgendwie auch nicht.
Dafür stört es mich umso mehr.

Dieser Unterricht war nicht wirklich großartig anders, als Musik.
Vorstellungsrunde, Bewertung, Stoff.
Grammatikwiederholungen. Stillarbeit.
Ich mag Grammatik. Da muss man nicht großartig nachdenken, sondern nur eine Handvoll Regeln beachten und schon ist man fertig. Ich kann nicht verstehen, was sich dabei alle so schwer tun. Ja gut, man sollte auch die unregelmäßigen Verben etc. drauf haben.
Ich war mit den Aufgaben, die für 60 Minuten gedacht waren, in 25 fertig, habe die Blätter für Korrektur vorne abgegeben und habe mir dann die Zeit genommen, anderen zu helfen. Lennart, links von mir in der ersten Reihe, konnte kein Passiv, da er ausgefallen ist, als es bei ihm vor zwei Jahren drankam. Unglaublich, dass er es noch nicht selbstständig nachgeholt hat. Den Kommentar behielt ich jedoch für mich. Stattdessen sorgte ich dafür, dass er es am Ende der Stunde verstanden hat.
Ähnliches tat ich bei Steven, auf der rechten Seite, der versuchte die wahrscheinlichste Lösung der Aufgaben mathematisch zu berechnen, da ihm Sprachen nicht so liegen. Natürlich kam er zu fast keinem richtigen Ergebnis und ich erklärte ihm einige grundlegende Dinge. Der Kerl ist irgendwie witzig. Er schafft es, alles auf der Welt auf irgendeine Art und Weise mit Mathe, zu verbinden, auch wenn es eigentlich nicht das geringste damit zu tun hat. Ein richtiger Mathefreak.
Als die Stunde fast vorbei war, plauderte ich mit ihm noch über Physik - sein zweites Lieblingsfach und auch eines meiner Favoriten.
Es stellte sich heraus, dass wir beide fasziniert von der Astronomie sind.
Wir sind dazu noch im selben Physikkurs.
Ich hätte ehrlich nicht gedacht, dass ich gleich am ersten Tag mehrere recht coole Leute kennenlernen würde. Ich wurde um einiges zuversichtlicher, was den Kontakt zu Mitschülern betrifft. Offensichtlich hat mein kleiner Wandel über die Ferien auch das Verhalten anderer mir gegenüber zum positiven beeinflusst... Aber ob dies für richtige Freundschaften reicht?

"Ding Dang Dong Dum", erklang der Schulgong in seiner vollen Pracht.
Ich drehte mich mit meiner gepackten Tasche langsam zum Ausgang, als mich Steven noch einmal ansprach: "Ähm... Milena?", stotterte er. "Ich weiß nicht wie ich das fragen soll, aber..." Er wurde ziemlich rot um die Wangen. "Kriege ich deine Nummer?", platzte es schließlich aus ihm heraus, seine hinter der eckigen Brille versteckten Augen schauten nervös hin und her.
Huii, was ist denn plötzlich mit dem los?, dachte ich schmunzelnd. Eben war er doch noch ganz entspannt?
Hat er sich etwa....? Never. Es hat sich noch NIE jemand in mich verliebt. (Jedoch hat mal jemand so getan als wäre er es, um mich zu verarschen. Es gelang nicht.) Der Gedanke alleine ist schon absurd. Ehrlich gesagt hoffe ich es alleine für ihn schon nicht, da er sich daran das Herz brechen würde. So schnell passiert so etwas doch auch nicht oder?
"Ähm Milena? Wenn du nicht möchtest ist es natürlich auch in Ordnung...", meinte er mit einem traurigen Gesicht.
Ups ich habe ja noch keine Antwort gegeben.
"Oh sorry, ich war kurz in Gedanken. Klar kannst du meine Nummer haben!", sagte ich tonlos, wie auswendig gelernt und tippte meine Nummer in sein Handy.

Dann warf uns der Lehrer raus, schmunzelnd. Wir waren die letzten im Klassenraum und er hat alles mitbekommen. Ohjee. Er gab mir noch die Aufgabenblätter aus der Stunde wieder, fehlerfrei.

Stolen Moments - Liebe Scheut Kein Gesetz!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt