Kapitel 12.1

181 12 2
                                    

Melissandra sagte für eine Weile nichts mehr, sondern nahm mich einfach in den Arm. Sie ist wahrscheinlich genauso überfordert mit der Situation, wie ich. Dennoch tat es mir irgendwie gut. Die Anspannung verließ mich langsam in Form von Tränen.
"Möchtest du mir nicht sagen, was los ist, Mila (Mein Spitzname bei ihr)?
Seitdem Frau Bruyères das Thema ist, bist du total angespannt und kontrolliert. Als ich dich fragte, ob du sie magst fängst du an zu weinen. Hast du dich vielleicht in sie verliebt?", fragte sie mich ruhig in mein Ohr. Ich bin geschockt. Diese Frage wollte ich mir eigentlich selber in Ruhe beantworten, da mir dieser böse Verdacht auch schon kam. Kann sie Gedanken lesen, oder kennt sie mich so gut? Ist es das, was man Seelenverwandtschaft nennt? Aber woher soll sie wissen, wie ich mich aufführe, wenn ich ich von Armors Pfeil getroffen bin? Ich war es schließlich bisher noch nie. Ich weiß auch nicht genau, ob ich es jetzt bin. Das Einzige, was ich weiß ist, dass ich durcheinander bin und Ruhe brauche.
"Du musst dich jetzt nicht fragen, wie ich darauf komme. Ich kenne dich schließlich mein ganzes Leben lang.", fuhr sie fort.
Ich schluchzte weiter in ihr Hemd.
Das wird langsam gruselig...
Als könnte sie echt meine Gedanken lesen.
Und... Sie ist 10! In diesem Alter sollte man von sowas doch eigentlich noch nichts verstehen!?
"Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts mehr im Moment! Ich bin völlig durch den Wind. Plötzlich habe ich Freunde. Die es sogar eventuell ernst meinen könnten. Und dann noch Sie. Meine Welt steht Kopf! ALLES steht Kopf!", weine ich mich an ihr aus. Schwarze Flecken bilden sich auf weiß.
Man ey, mein Schwesterherz ist doch kein Taschentuch! Ich übertreibe mal wieder völlig. Ich möchte sie nur so ungerne belasten... Aber wir haben einander mal geschworen uns immer alles zu erzählen, als wir kleiner waren und einen Schwur bricht man nicht.
Jetzt hat sie auch noch Flecken wegen meiner Schminke. Man man Milena, was machst du denn da wieder?
"Psst Mila, es ist alles gut! Freunde sind doch toll! Ich glaube zwar nicht, dass ich dir viel helfen kann, aber ich höre dir immer zu. Ich bin immer für dich da!", sagte sie mir mit ihrer Kinderstimme. Sie ist so niedlich.
"Ach danke, Süße. Ich erzähle dir später alles. Oder morgen. Ich brauche erstmal etwas Ruhe und Zeit um mich zu sortieren. Bist eine tolle Schwester.", schluchzte ich gerührt, immernoch in ihrem Arm.
"Ich habe immer ein Ohr offen für dich. Vergiss das nie! Du bist auch ein tolles Schwesterchen.", erwiderte sie, mir in die Seite pieksend.
"Musst du dich immer darüber lustig machen, dass du fast so groß bist, wie ich? Tut mir leid für die Flecken auf deinem Hemd!", kicherte ich verheult.
"Kann man waschen.", erwiderte sie, auch kichernd.
Ich nahm ein Taschentuch aus dem Jutebeutel und wischte mehr schlecht als recht die verschmierte Schminke weg und putzte mir anschließend die Nase.
Mami soll ja nichts merken... Sonst würde sie Fragen stellen, die ich nicht beantworten könnte. Sie ist die einzige Person auf Erden, die nicht erfahren darf, dass ich lesbisch bin. Jedenfalls nicht, solange ich bei ihr zu Hause wohne. Sie ist mit der koreanischen Kultur aufgewachsen und dort ist Homosexualität verpönt. Sie würde mir das Leben zur Hölle machen, es nie und nimmer akzeptieren.

Als ich mich wieder recht weit beruhigt hatte, gingen wir Hand in Hand in Ruhe weiter. Luna schmiegte sich an meine Beine. Sie hat irgendwie ein ganz besonderes Gespür, was mich betrifft. Als würde sie jetzt wissen, dass es mir nicht so gut geht.
"Wie kommst du so mit Timo klar?", fragte ich sie, um das Thema zu wechseln.
"Er ist zwar ein Nerd, aber super nett. Wir sind schon so etwas wie Freunde geworden. Ich sehe aber, dass er einen schwierigen Stand in der Klasse hat.", erzählt sie leicht besorgt.
"Ich hab ja in der Pause schon gesehen, dass es gut läuft bei euch.", lächele ich sie an. Aber was, wenn sich die Klasse dann auch gegen sie stellt, nur weil sie mit ihm befreundet ist?
Ach was denke ich da, sie kann sich mit jedem anfreunden, wenn sie möchte. Im Umgang mit Menschen ist sie deutlich besser, als ich, obwohl sie fünf Jahre jünger ist. Ich kenne sie doch.
"Dass es Probleme gibt, weiß ich ja.", fuhr ich fort.
"Woher? Und was war denn da, als ihr vor der ersten Stunde zusammen in Richtung meines Klassenraums gekommen seid? Er wollte es mir nicht erzählen, solange Mitschüler in der Nähe waren. Die Mädchen sagen, dass da was zwischen euch läuft!", lachte und fragte sie.
"Jetzt mal langsam! Also, ich kann dir zumindest versichern, dass da nichts zwischen uns läuft.", begann ich lachend. Hat sich mein Verdacht also bestätigt? Haha.
Ich erläuterte ihr kurz und knapp die Umstände unter denen wir uns kennenlernten.
"Oh... Dass es so schlimm ist, habe ich nicht gedacht.", sprach sie, betroffen.
"Was haben sie denn noch gemacht, seitdem ich weg war?", fragte ich sie.
"Beleidigt, ihn im Unterricht mit Sachen beworfen. Einer sagte irgendwas wie: 'Nächstes mal sorgen wir dafür, dass dir keiner hilft, wenn wir dir deine gerechte Strafe erteilen! Die da hatte nur Mitleid, weil du so mickrig bist!', oder so. Jetzt weiß ich, dass du gemeint warst.", erzählt sie.
"Aber wofür wollen sie ihn bestrafen? Als ich mit den Schlägern geredet habe, meinten die nur, dass er ein Opfer sei und deswegen gemobbt werden muss. Die labern doch völligen Koks! Und zu dritt auf einen einprügeln. Haben die keinen Stolz, keine Ehre, oder ähnliches?! Die Lehrer merken auch nichts?!", rief ich, aufbrausend. Ich wurde wieder wütend. Ziemlich wütend.
"Ich weiß nicht, was er ihnen getan haben könnte. Nein, sie machen es unauffällig, oder außerhalb ihrer Sicht. Timo bleibt immer ganz ruhig und sagt auch nichts. Wenn etwas im Unterricht auffällt, nimmt er die Schuld auf sich. Als er mit Papier beworfen wurde und der Mathelehrer es gehört hat und fragte was das war, antwortete er, dass ihm etwas runtergefallen sei.", antwortete sie mir ruhig.
Meine Schwester ist die einzige Person, die bei meiner Wut nicht zurückzuckt. Sie weiß, dass ich niemandem etwas tun würde. Sie weiß warum ich mich ärgere.
"Er hat totale Angst vor denen... Das hat er mir auch erzählt. Das darf so nicht weiter gehen. Ich konnte ihn jedoch dazu überreden morgen mit mir zu ... Frau Bruyères ... zu gehen.", sagte ich, wieder etwas ruhiger. Als ich den Namen der Lehrerin aussprach, lief mir ein heißer und kalter Schauer über den Rücken.
Dass schon der Klang ihres Namens so einen Effekt auf mich hat ist kein gutes Zeichen. Gar kein Gutes. Hach... Das Positive an der Sache ist, dass ich wohl nicht zum Arzt muss, da meine plötzlichen Beschwerden wohl nicht auf körperliche Probleme, oder Stress zurückzuführen sind. Immer das Positive an Umständen sehen, Milena.
"Das ist doch etwas positives! Es könnte sich etwas an seiner Situation ändern! Aber ich weiß nicht, für wen es schwieriger wird... Für ihn oder für dich?", zweifelt sie mit einem bemitleidenden Blick zu mir.
"Uff, gute Frage ... Das wird man morgen sehen. Ich werde mein Versprechen zu ihm aber nicht brechen. Da muss ich wohl durch.", murmelte ich leise mit dem Blick zu Boden.
Melissandra nahm meine Hand in ihre und drückte sie aufmunternd.
Ich lächelte ihr zu. Schwesterchen ♡
Wir legten Hand in Hand mit einem angenehmen Schweigen die letzten Meter durch unseren bunten Vorgarten zu unserem Haus zurück und klingelten.

Stolen Moments - Liebe Scheut Kein Gesetz!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt