EC-1035

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Zuhause warf Annabell die Jacke hin und setzte sich. Warum musste er immer wieder kommen. Der verfluchte Tag. Da wäre es besser, alles zuzumachen und nicht nach draußen zu gehen, bis die 24 Stunden um sind. Langsam rannten Tränen über die Wangen von Annabell und sie ließ ihnen freien Lauf. Sie waren berechtigt. Sie hat mit ihrer Fahrlässigkeit Andreas in Gefahr gebracht und weder Michael, noch sonst wer könnte sie vom Gegenteil überzeugen.

Sie saß den ganzen Tag da, trank ab und zu etwas und aß nichts. Ihr war einfach nicht danach zumute. Aber was sie tat, und das jedes Jahr, ein paar alte Fotos ansehen. Es war der einzige Trost.

"Hey." Sie zuckte zusammen und sah zur Tür. Michael lehnte im Türrahmen. Sie schloss kurz die Augen und verdaute den Schock erstmal: "Du hast den geheimen Ort gefunden." "Schlecht, wenn man ihn in den Computer eingibt." Er ging langsam auf sie zu und setzte sich. "Haben wir einen Einsatz?", drehte sie das Bild ganz unauffällig um. "Nein. Was ist los?" Sie musterte kurz die Tischplatte und antwortete nicht. "Du, ich hab' mir echt Sorgen gemacht. Weißt du, wie oft das passiert, dass einer mit einer blutenden Wunde wegkommt? Immer." Sie sprang auf und hielt die Tränen zurück. Das Bild in der Hand. Sie ging zum Fenster und Michi stand nun auch auf: "Bitte rede mit mir." Annabell schniefte kurz und hielt ihm das Bild hin. Er nahm es entgegen. Zwei Personen waren vor einem Hubschrauber zu erkennen. Sie lächelten und hielten Händchen. Es war eine Polaroidbildaufnahme. Mit weißem Rand. Michi drehte es um und las.

An meinen kleinen Engel Annabell
2007

"Meine Eltern...", begann sie langsam und verschränkte die Arme vor der Brust, "Mein Vater war Pilot. Meine Mutter Krankenschwester. An dem heutigen Tage haben sie geheiratet und sich getrennt. Ein paar Jahre nach der Scheidung, wollte mein Vater meiner Mutter wieder seine Liebe gestehen. Ich habe ihn gehasst. Er ist trotzdem mit ihr in die Luft und sie sind abgestürzt. Heute vor 9 Jahren. Ich bin vor dem nichts gestanden. Ins Heim bin ich gekommen, bis ich selbst verdient habe. Und genau an diesem Tag, immer wieder, passiert irgendwas. Ich hätt' heute nicht fliegen sollen." Michi klopfte mit dem Bild ein paar Mal auf seine Hand: "Warum hast dann nichts gesagt? Ich hätt's akzeptiert." "Das weiß ich doch, aber...", sie atmete schwer aus. "Schon gut, ich kann's verstehen, wenn man das keinem erzählt, den man erst seit ein paar Tagen kennt." "Nein.", drehte sie sich zu ihm um, "Das ist es nicht. Ich hab mich nicht getraut." "Danke, dass du es mir jetzt erzählt hast." "Danke, dass du mich gefragt hast. Ich bin's noch nie so richtig losgeworden." Er lächelte und breitete seine Arme aus. Langsam ging sie auf ihn zu und er drückte sie kurz. Für ihn war gerade dieses Tochter-Vater-Gefühl vorhanden, wie er es bei Anne gefühlt hat. Er fühlte sich verantwortlich für Annabell. Und nicht nur zu wenig.

"Und du kommst zurecht?", fragte er und stand schon draußen. "Ja.", lächelte sie. "Wirklich?" "Ja, jetzt mach dir keinen Kopf. Schließlich hast du ja eine Freundin, die auf dich wartet." "Ok, ich seh' dich morgen." "Abgemacht." Er nickte und fuhr davon.

Annabell blieb nicht lange wach. Sie ging gleich ins Bett.

Jemand drehte das Schloss in der Tür um und öffnete diese. "Michi, bist du das?", rief Verena und kam um die Ecke. "Hey.", schloss er die Tür und kam auf sie zu. Sofort bekam sie einen Kuss. "Na, alles geklärt?" "Ja, war etwas schlimmer als erwartet." "Was ist passiert?" "Ein leicht dramatische Vergangenheitsgeschichte. Verheiratete Eltern. Geschiedene Eltern. Flugzeugabsturz und Heim." "Klingt wirklich nicht rosig." "Und das alles heute vor vielen Jahren. Deswegen war sie so. Ich fühl' mich so wahnsinnig verantwortlich. Is' das normal?" Sie nickte: "Kann man verstehen. Los, lass uns was essen."

Am nächsten Tag, war alles ruhig. Annabell und Rudi warteten den Christophorus und Michi döste vor sich hin, bis er am Abend dann ging.

Annabell war noch lange da und studierte das ganze Cockpit, bis sich der Heli langsam nach vorne bewegte. Rudi zerrte den EC-135 müßig in den Hangar. "Hey Rudi.", rief sie nach draußen, durch den kleinen Spalt im Fenster und er bleib stehen. "Du noch hier?", fragte er lächelnd und stemmte die Hände in die Hüfte. "Ja, warum nicht. Ein wenig den Heli studieren. Was anders als bei einer Bo 105 ist." "Da könnte ich dir einiges erzählen." "Warum nicht.", sprang sie heraus. "Gut, wo soll ich anfangen.", dachte er kurz nach und rannte an das Ende der Maschine, "Also die 105 hat zwei Triebwerke. Rolls-Royce oder Allison 250
C20B III mit je 313 kW. Der Allison 250 ist ursprünglich ein militärisches Wellenleistungstriebwerk, das T63 geheißen hat und aus Amerika stammt. Hingegen hat die EC-135 2 Turboméca Arrius-2 B mit je 609 kW. Die Standartmaschinen. Unser Baby hat die Pratt & Whitney PW 206B mit je 609 kW intus." Sie hörte ihm aufmerksam zu und war erstaunt über sein Wissen. Er öffnete die Hintertür und setzte sich nach drinnen. Rudi hielt ihr auch noch eine Hand hin und zog sie nach drinnen. "Also statt einem Zweiwellengetriebe und einem angepassten Reduktionsgetriebe, Wellengasturbine und Radikalverdichter.", sagte sie. "Genau. Gezündet wird der Kraftstoff beim Triebwerksstart über ein doppelt ausgelegtes Zündsystem. Und bei Ausfall der Turbine, kann mit einer konventionellen hydromechanischen Einheit weiter betrieben werden." "Wow, du kennst dich wirklich aus." "Und das beste kommt ja noch. Sollte ein Triebwerk ausfallen, kannst du bei höchster Leistung weiterfliegen." "Gut zu wissen." "Der einzige Nachteil an der EC ist, dass sie um 11 km/h langsamer ist, als die Bo. Also 259. Sie hat allerdings eine schnellere Steigrate von 9,5 Meter pro Sekunde, statt 7,6 Meter. Seine Vor- und Nachteile. Warte.", sprang er auf der anderen Seite wieder nach draußen und stellte sich auf die Kufen. "Wenn du fliegst und Michi sollte mal nicht da sein, dann musst du auf die Besatzung achten. Wenn du zu schwer bist, musst du einen Teil der Ausrüstung ausladen und rechnen." "Da kommt ja was auf mich zu.", lachte sie und stellte sich neben ihn. Er öffnete die Verkleidung. "Kann ich dich nicht einfach anrufen, falls ich mal in der Situation wäre?" Er sah sie kurz überrascht an, bevor er sich wieder der Maschine zuwandte. "Scheiße.", fluchte er und hatte etwas Schwarzes an seinen Händen kleben, "Der Michael kann mir auch nie sagen, was die Maschine sagt." "Was heißt das jetzt?", musterte sie die Technik. "Eine lange Nacht.", lächelte er etwas angefressen. Sie nickte und legte sich in die Kiste. Leicht verwirrt sah er nach drinnen. "Darf ich nicht bleiben?" "Doch doch.", sagte er sofort, "Normalerweise wollen alle immer nachhause.", rannte er nach drinnen und holte den Werkzeugkasten. "Ich bin nicht normal. Außerdem ist es zuhause langweilig. So still und niemand redet." "Ich sag' nie nein über Gesellschaft.", hörte man ihn Schrauben. Annabell lag im Helikopter. Die Arme hinter dem Kopf verkreuzt, die Beine übereinander geschlagen und sie wippte mit dem linken Fuß. Rudi pfiff leise vor sich hin.

Irgendwann war es dann so still, dass er mal in den Hubschrauber sah. Annabell schlief. Rudi schnaubte kurz lächelnd und ging nach drinnen. Irgendwo müsste noch ein Decke sein, die er auch gleich fand. Er warf sie Annabell über und begann weiterzuschrauben. Irgendwann fielen ihm schon fast die Augen zu und er legte sich auch in den Heli. Direkt neben Annabell. Er starrte an die Decke und konnte den Schlaf nicht mehr zurückdrängen.

Annabell wurde wach. Eine Decke lag auf ihr und neben ihr Rudi, der fest schlief. Einen Schraubenschlüssel in der Hand und mit Schmierflecken übersät. Sie lächelte kurz, nahm die Decke und warf ihm einen Teil über. Bevor sie langsam wieder in das Traumland verschwand.

"Was hältst du davon?", fragte Michi Andreas. Die zwei waren gerade am Heliport angekommen. "Schön, wenn ihr euch eine Wohnung suchen wollt. Ist die von Verena so klein?" "Ja, sie ist nicht die größte.", er sah nach drinnen, wo noch Licht brannte, "Hat Rudi heute da drinnen geschlafen?" "Keine Ahnung." Sie kamen immer weiter um den Hangar und waren ganz überrascht. Der Christophorus stand draußen mit offenen Tür. Der Hangar war offen. Auf der Landefläche war Werkzeug und der Hubschrauber leicht auseinandergenommen. "Was zur Hölle.", sagte Andreas und verstand es nicht. Als sie vor der offenen Hintertür standen, begannen beide zu schmunzeln. "Aha, so läuft der Hase also.", bemerkte Michi leise.

Rudi und Annabell schliefen im Helikopter noch tief und fest. Zugedeckt.

"Ich würd' zu gern starten und wegfliegen. Wie die reagieren.", lächelte Michi und ging. Er ließ sie schlafen. Andreas folgte ihm: "Der schuldet uns eine Erklärung." "Na definitiv."

Strong Minds never resigns | Die BergretterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt