1: Ja richtig, ich bin tot

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London war diese Woche wieder sehr geschäftig gewesen und Menschen fluteten massenweise die Straßen. Nirgendwo konnte man sich aufhalten, ohne sofort von schnatternden, lachenden und mit Einkaufstüten beladenen Leuten umgeben zu sein. Außer natürlich man kannte die hintersten, dunkelsten und schmutzigsten Gassen, in die die normalen Einwohner sich nicht einmal im Traum verlaufen hätten. Die Orte, die ich mein Zuhause nannte.

Gerade wühlte ich mich durch einen der tausend Müllsäcke am Straßenrand, als ich eine Polizeisirene hörte, die langsam näher kam. Schnell schaute ich mich nach einem Versteck um und kroch dann, als ich nichts besseres fand, in eine schmale Lücke zwischen zwei große Abfalltonnen und zog mir den Stoff meines ausgebeulten Oberteils vor das Gesicht. Von außen zog ich so keine Blicke auf mich und sollte doch jemand zufällig hier her gucken, würden sie mich niemals als menschliches Wesen identifizieren. Den Trick hatte ich schon recht oft anwenden müssen und bisher war ich noch nicht geschnappt worden.

Diese Verfolgungsjagd mit den Cops lieferte ich mir bereits seit knapp einem Monat. Es hatte harmlos angefangen, ich wollte nur etwas aus einem Lebensmittelgeschäft mitgehen lassen, weil ich blank gewesen war und seit Tagen nichts anständiges mehr zwischen die Zähne bekommen hatte. Stattdessen verfolgten mich jetzt diese uniformierten Affen von einem Ende der Stadt zum anderen. Ab und zu sah ich an Laternen oder Litfaßsäulen ein Fahndungsplakat von mir, sogar eine kleine Summe war auf mich ausgestellt worden. "Daniel Hooper, 20 Jahre. Jeden Hinweis auf seinen Aufenthalt bitte der örtlichen Polizei mitteilen!", stand unter einem detailgetreuen und leider recht aktuellen Foto von mir, ich hatte auch keine Ahnung woher sie das hatten. Vielleicht von einer Überwachungskamera, dann aber einer verdammt guten. Sie hatte sämtliche Details von mir eingefangen wie meine Stupsnase, meine schmuddeligen blonden Haare oder die Art, wie ich meine linke Schulter hängen ließ, wann immer ich abgelenkt war und nicht darauf achtete. Eine der Ecken des Bildes zierte außerdem noch in roten auffälligen Buchstaben eine Warnung. "Vorsicht: Wahrscheinlich bewaffnet und gefährlich!"

Und das war der Grund, warum ein simpler Diebstahl für mich so dermaßen ausgeartet war. Das scheiß Messer, das ich bei mir getragen hatte. Deswegen verfolgte man mich immer noch und ließ mir keine ruhige Nacht ohne die Angst, doch noch geschnappt und ins Gefängnis gebracht zu werden. Ich hatte es so satt, vor allem da es beinahe tagtäglich mehr Streifen wurden, die nach mir Ausschau hielten.

Ein Auto war jetzt vor der Gasse angekommen, in der ich mich versteckt hielt. Das Blaulicht wurde ausgeschaltet, Türen knallten und schwere Schritte hallten im unregelmäßigen Tempo in der Häuserschlucht nach. Geräuschlos zog ich meine Füße näher an den Körper und verharrte so unangenehm eingepfercht und mit heftig klopfendem Herz, bis die Bullen endlich wieder weg sein würden. Wie erwartet schweifte ihr Blick nur angeekelt und desinteressiert über die Müllberge, soweit ich das erkennen konnte, dann gingen sie auch schon leise miteinander erzählend weiter. Das Auto fuhr wieder an, die Schuhe auf dem Pflaster verklangen allmählich und ich lugte hinter der versifften Plastiktonne hervor. Sie waren jetzt vermutlich weit genug weg. Trotzdem würde ich für heute Nacht meinen Schlafplatz wechseln, nur zur Sicherheit. Sonst würde er mich nämlich finden.

Er war ein Typ, der mich seit vorgestern verfolgte und stalkte. Etwa 1,70 Meter klein, einen Kapuzenpulli an, das Gesicht komplett darunter verborgen. Klang ja erstmal nicht weiter wild, doch er schien genau zu ahnen, wohin ich als nächstes wollte, noch bevor ich es überhaupt wusste. Wenn ich schon die Polizei ab und zu schwer loswurde, dann war er die schlimmste Klette von allen. Nahezu lautlos, manchmal einfach spurlos verschwunden, nur um dann in der nächsten Straße bereits auf mich zu warten und meine Hoffnungen auf eine Ruhepause zu zerstören. Ich konnte nicht sagen, wer oder was er war, niemand von den Cops, sonst wäre ich mittlerweile schon lange eingebuchtet. Ich vermutete aber, dass er trotzdem etwas mit der Sache zu tun hatte, weshalb ich auf der Flucht war. Hatte die Familie des Betroffenen vielleicht nach jemanden verlangt, der mich beschatten sollte? Ein Privatdetektiv? Oder ein wütendes Mitglied der Gang, in der ich bis vor kurzem untergetaucht war, und die sich nun persönlich oder in Form eines Auftragskillers rächen wollte dafür, dass ich aus ihrem Kreis ausgetreten war? Alles war möglich, und jede Vorstellung schlimmer als die vorherige.

Als ich die Seitenstraße verließ, sah ich den Kerl tatsächlich schon als schwarzen Schatten in einem Häusereingang warten. Er rauchte, schnippte den Kippenstummel weg und folgte mir, sobald ich ihn erblickt hatte und sofort den Weg in die entgegengesetzte Richtung einschlug, obwohl dort eben auch schon das Polizeiauto entlang gefahren war. Nur weg von diesem gruseligen Kerl! Gegen ihn war die ganze restliche Verfolgung wirklich der reinste Kinderkack!

Nachdem ich ihn bestimmt zwanzig Straßen weiter trotz Schleichwege, Menschenmengen im Stadtinnenteil und Labyrinth-ähnlichen Gässchen nicht hatte abschütteln können, stand mein Entschluss fest. Ich musste herausfinden, wer er war, was er von mir wollte und wie ich ihn loswerden konnte. Also rannte ich ein Stück, tauchte in einer endlos scheinenden Gruppe von Touristen unter, kämpfte mich entgegen ihrer Laufrichtung durch und dann in den nächsten Abzweig rechts. Da war ein Hauseingang, in den ich mich pressen und meinem Verfolger auflauern konnte. Noch war er nicht angekommen, aber das würde sich bestimmt gleich wieder ändern. Ich wusste, es war riskant, ihn abzufangen und direkt zu konfrontieren, aber wenn ich endlich das Gesicht unter der Kapuze kannte, würde ich vielleicht nicht mehr ganz so große Panik vor ihm haben. Und besser so herum, als wenn er mich über kurz oder lang in einer ausweglosen Situation fangen und verhaften lassen würde. Denn das würde er tun, da war ich mir hundert prozentig sicher, wenn er mich nicht davor noch verprügelte und schlimm zurichtete. Er wartete nur auf den richtigen Moment, bis ich einen Fehler machte. Oder er genoss noch eine Weile meine Hilflosigkeit. Das wusste ich nicht.

Gleich darauf hörte ich seine Schritte am Eingang der Gasse, schon bevor ich ihn sah. Er hatte meine Spur tatsächlich nicht verloren. Kurz vor meinem Versteck hielt er plötzlich an. Doch er tat nicht, was ich erwartet hätte, ging weder weiter noch drehte er um. Er lachte stattdessen, kehlig und dreckig. Ich bekam eine unangenehme Gänsehaut. Zum Flüchten war es zu spät und wollte ich ihn noch überraschen, musste ich jetzt handeln!

Ich sprang aus der Nische hervor, packte den Fremden am Kragen und drückte ihn an die gegenüberliegende Wand. Er wirkte nicht im geringsten über mein Auftauchen verwundert, lachte nur immer weiter und übertönte beinahe mein wütendes Knurren: "Wer bist du? Warum verfolgst du mich und was willst du von mir? Antworte mir besser!"

"Oder was?", wollte der Typ von mir wissen, völlig entspannt und mit den Händen in den Taschen seines Hoodies vergraben, "wirst du mich töten, du hässliche Vogelscheuche?"

"Beantworte einfach meine Fragen", zischte ich, konnte aber nichts dagegen tun, dass meine Stimme weniger selbstsicher klang als sie sollte. Er zuckte mit den Achseln. "Ich will, dass du bereust, Daniel. Die ganze Scheiße, die du verbockt hast!", antwortete er plötzlich hasserfüllt, griff nach dem Kapuzenstoff und schlug ihn zurück.

Ich stockte. Unter den dunkelbraunen, wilden Locken kam ein schmales Gesicht zum Vorschein, aus dem mich rostrote, hungrig glühende Augen anstarrten. Sein Mund verzog sich zu einer schief grinsenden Grimasse, als ich rückwärts stolperte und meinen Blick nicht von einer mit Blut überströmten Stichwunde an seinem blassen Hals lassen konnte. Das war unmöglich! Er konnte es nicht sein! "A-aber... du bist tot!", krächzte ich. Jetzt war er es, der mich packte, gegen die Wand drängte und feindselig von unten her musterte. "Ja richtig, ich bin tot. Du hast mich schließlich umgebracht, aber das weißt du ja offenbar noch gut. Und jetzt wirst du mir den Gefallen tun und das schleunigst bereuen!"

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