6: Nach Hause

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"Aufwachen, Schlafmütze!", brummte Steven missgelaunt. Als ich nicht sofort auf ihn reagierte und mich nur auf den Bauch drehte, rüttelte er mich unsanft an der Schulter. Brummend vergrub mein Gesicht in dem Polster: "Noch nicht, ich bin müde!" Ich brauchte dringend noch ein paar Minuten Schlaf, sonst würde ich auf der Stelle im Stehen wegnicken. Aber ein gewisser jemand war da anderer Meinung. Ich hörte ihn um die Couch gehen, bis er hinter der zertrümmerten Rückenlehne anhielt. Zigarettenasche rieselte auf mein Gesicht herab, dann packte er mich an der Hüfte und meiner Schulter und stieß mich kräftig von sich, sodass ich von meiner weichen Unterlage herunter rollte. Erschrocken schrie ich auf, ehe ich mit einem dumpfen Schlag auf dem Steinboden landete und kurzzeitig alle Luft aus meinen Lungen gepresst wurde.

"Alter, hast du sie nicht mehr alle?", japste ich überrascht und um Atem ringend. Der Typ war echt die Pest! Wie er mich fies angrinste, seine Beine mit Schwung über die Lehne beförderte und dort oben wie auf einem Thron sitzen blieb, alles an ihm triefte vor Überheblichkeit. Hatte ihn schon mal jemand ohne Vorwarnung von so einer Höhe runter geworfen? Wahrscheinlich nicht, sonst wüsste er, wie scheiße doll so eine Aktion wehtat!

Ächzend rappelte ich mich auf und schaute mich schnell um. Es musste bereits Vormittag sein, im hellen Tageslicht lag die Müllhalde wieder wie ausgestorben da. Wir waren die letzten hier. Das heißt, wenn man den einen Penner am Eingang nicht mitzählte, der gerade in meinen Mülltonnen von gestern nach einem Frühstück für sich suchte. Na dann, viel Erfolg dabei.

Mein Kopf brummte ein wenig, als ich eilig die restliche Müdigkeit vertrieb. "Wo willst du eigentlich so früh hin...?" Ich konnte mich jedenfalls nicht daran erinnern, das ich eingewilligt hatte, ihm hinterher zu trotten und seine Wünsche zu erfüllen. Das war als Schutzengel wenn schon sein Job.

Steven sprang wieder auf, das blöde Lächeln weiterhin in sein Gesicht gepflastert. Aber seine Augen wurden ausdruckslos und kalt. "Wir gehen jemanden besuchen. Komm mit!", schnaubte er verächtlich und stiefelte los, ohne sich zu vergewissern, ob ich ihm überhaupt folgte oder nicht. Was war denn bloß los mit ihm? Hatte er schlecht geschlafen? Sich einen Stein eingetreten? „Kommst du endlich, Schnarchnase?", rief er mir zu und ließ mich jetzt wenigstens zu sich aufschließen.

"Wenn du dann endlich aufhörst, dich wie ein Baby aufzuführen. Aktuell bist du nämlich einfach nur unerträglich. Tu mir nen Gefallen und lass deine miese Laune nicht ständig an mir aus."

Steven zuckte wie fast immer mit den Schultern, steckte sich eine Zigarette an und murmelte etwas, das sich verdächtig stark nach "Wer ist denn hier das Baby?" anhörte. Aber ich stieg nicht darauf ein. Sonst würden wir hier noch den ganzen Tag mit Streiten verbringen. Bevor das passierte, hatte ich echt noch besseres mit meiner Zeit zu tun! „Na los, bring mich zu deinem Bekannten!"

Der Junge schien Londons Schleichwege fast genauso gut zu kennen wie ich. Jedenfalls hielt er nur selten an, um sich zu orientieren und marschierte dann jedes Mal schnell weiter. Allmählich erkannte ich die Richtung, in die er uns führte. Steven wollte zur City of Westminster, das Nobelviertel, in dem die besser gestellten Leute der Stadt wohnten. Ich mochte diese Ecke Londons nicht besonders. Hier fiel ich aufgrund meiner schludrigen Kleidung viel zu sehr auf, die Straßen waren weit und übersichtlich und es gab zu wenige Verstecke, falls die Polizei auch hier entlang patrouillieren sollte. Entsprechend nervös schaute ich auch andauernd über meine Schulter zurück. Ich hatte das Gefühl, schutzlos und nackt jeder Gefahr ausgeliefert zu sein. Nicht angenehm, wie sicher jedem klar sein sollte.

"Wohin willst du bitteschön noch?", zischte ich leise und leicht schreckhaft, als wir knapp zwanzig Minuten später im Stadtteil Pimlico gelandet waren und immer noch kein Ziel erreicht hatten. Ich konnte mir gut vorstellen, wie Steven vor mir die Augen verdrehte. "Wie weit ist es noch? Sind wir bald daahaa? Mama, ich muss dringend mal Pipi! Mir ist kalt!", jammerte er mir verstellter Stimme und so nervtötend laut, dass ich automatisch alle Richtungen abcheckte, ob uns auch niemand beachtete oder folgte. Aber wie immer, wenn er seinen Mund aufriss, horchte keiner in unserer Umgebung auf. Sie konnten ihn schließlich nicht wahrnehmen. So praktisch, das tät ich mir auch manchmal wünschen. Keine Sorgen mehr wegen der Cops haben zu müssen klang echt verlockend! Ich war kurz so fokussiert auf diesen Gedanken, dass ich nicht aufpasste und prompt gegen Steven prallte, als er plötzlich ohne Ankündigung stoppte. "Man, pass doch auf!", schnauzte er mich an.

Ich spähte an ihm vorbei und sah dort auf den ersten Blick nichts vollkommen außergewöhnliches. Lediglich eine ringförmig verlaufende Straße, auf der eine Gruppe Kinder spielte. Bestimmt zehn Stück, eines hatte ein Springseil, der Rest bemalte den Asphalt mit bunter Kreide. Aber der Gesichtsausdruck des Jungen vor mir hatte sich verändert. Er nahm die halb aufgerauchte Zigarette aus dem Mund, legte den Kopf schief und betrachtete die Szenerie beinahe liebevoll. So liebevoll ein zerzauster, kiffender Jugendlicher mit dauerhaft blutender Stichwunde am Hals halt dreinschauen konnte. Ich folgte seinem Blick und entdeckte einen Jungen abseits vom Rest, der auf den Stufen zum Wohnhaus rechts von uns saß und mit leeren Augen in die Ferne starrte. Er war geschätzt im Grundschulalter – vielleicht acht bis zehn Jahre alt – hatte halblange braune Korkenzieherlöckchen und als Steven sich langsam auf ihn zubewegte, wurde mir klar, dass das sein kleiner Bruder sein musste. So nahe beieinander sahen sie sich trotz des Altersunterschiedes ziemlich ähnlich.

Mein Begleiter ließ sich knapp vor ihm auf den kalten Untergrund sinken, lächelte ihm zu und schien leise mit ihm zu reden. Von dem Jungen kam keine Reaktion. Er schaute geradewegs durch seinen Gegenüber hindurch und schniefte. Aha, also konnte Steven sich auch dann nicht anderen Leuten zeigen, wenn er es gerne wollte. Er war und blieb unverändert für alle außer mich unsichtbar. Eben hatte ich ihn dafür ein wenig beneidet, jetzt begann ich Mitleid mit ihm zu haben. Er sah wirklich so aus, als hätte er seinen Bruder gerne getröstet und sich mit ihm unterhalten. Bestimmt hatte er sich schon früher immer um den Kleinen gekümmert. Ihm die Schuhe zugebunden, den Reißverschluss der Jacke hochgezogen und die Tasche gepackt, wenn es Zeit für die Schule wurde. Er musste seine ganze Familie schrecklich vermissen...

"Leo? Hey Schatz, was ist los? Warum spielst du nicht mit den anderen?"

Die Tür hinter den Jungen war aufgegangen und eine Frau blickte aus dem Eingang heraus. Sie musste wohl einmal sehr schön gewesen sein, doch jetzt sah sie niedergeschlagen und unglücklich aus. Die Trauer sprach aus jedem ihrer Gesichtszüge und ihr wirres Haar zeigte erste graue Ansätze. Jetzt hatte auch Steven sie bemerkt. "Mom!", rief er, lief auf sie zu und wollte sie umarmen, doch er wurde wie von einer unsichtbaren Wand beiseite gestoßen, als die Frau ohne ihn wahrzunehmen von der Türschwelle trat und sich zu dem Jungen namens Leo setzte. Besorgt schaute sie ihn an. Er quengelte: "Ich will nicht mit denen spielen! Ich will zu Steven! Wann kommt er wieder nach Hause Mama?"

Okay, das war verdammt nochmal zu viel für mich. Ich musste mich kurz abwenden, damit ich nicht auf der Stelle anfing, Rotz und Wasser zu heulen. Ja, ich hatte große Scheiße gebaut. Ich hatte eine intakte, fürsorgende Familie zerrissen. Wäre ich nicht gewesen, würde niemand von ihnen so leiden müssen, wie sie es jetzt taten. Selbst mein Begleiter konnte sich die Tränen nicht mehr verkneifen, als er seinen Bruder und seine Mutter so trauern sah.

Eben wollte sie sich herunterbeugen, um Leo etwas zuzuflüstern, als ihr Blick an ihm vorbei fiel und sie mich im Schatten des Nachbarhauses entdeckte. Eine Sekunde lang schien sie unsicher, ob ihre Augen sie nicht täuschten, dann hob sie ihren verbliebenen Sohn unsanft hoch und scheuchte ihn ins Haus zurück. Ich wurde sofort unruhig. Sie hatte mich erkannt und würde die Cops rufen, keine Frage! Aber wie konnte ich das Steven vermitteln, ohne noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen? Wir mussten abhauen! Aber er machte keine Anstalten, sich in den nächsten Minuten von seinem Platz zu bewegen! Scheiße, was sollte ich tun? Konnte ich ihn zurücklassen? Aber was, wenn mir dann etwas zustieß? Komm schon Steven, komm schon!

Die Haustür flog wieder auf und seine Mutter stürzte heraus. Sie hatte sich bewaffnet, in einer Hand hielt sie einen Telefonhörer, mit der anderen umklammerte sie ein langes, scharfes Küchenmesser. Oh fuck...! Ich taumelte rückwärts, ein taubes Gefühl hatte sich in meinem Körper breit gemacht und er gehorchte mir nicht richtig. "Du!", schrie die Frau so laut und wütend, dass die anderen Kinder vor Schreck im Spielen innehielten und sich nach uns umsahen. Ein Mädchen begann beim Anblick der Waffe schrill zu kreischen. "Du hast meinen Sohn auf dem Gewissen! Mörder! Mörder! Jemand muss ihn aufhalten!!"

Angelockt von dem Tumult wurden überall um uns herum in der Straße die Fenster aufgerissen und Hälse neugierig nach draußen gereckt. Ich stolperte und gewann endlich die Kontrolle über meinen Körper zurück. Steven hin oder her, ich musste hier weg, jetzt, sofort! Sollte sie bereits die Polizei an der Strippe haben, konnten die in unter fünf Minuten schon sämtliche Straßen in der Nähe durchkämmen! Im Notfall waren die schnell, schneller als man ihnen jemals zutrauen würde...

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