So oft ich es auch noch versuchte, ich schaffte es nicht, dass Steven mir zuhörte und auch meine Gründe verstand, also ließ ich es sein, sobald ich die Blicke der Fremden auf mir spürte. Es war wie der Junge gesagt hatte, für alle anderen war er ganz offensichtlich unsichtbar und ich musste gerade wie ein Verrückter wirken, der Selbstgespräche führte. Gar nicht gut, Aufmerksamkeit brauchte ich jetzt absolut keine, besonders wenn heute ein Streifenwagen den nächsten jagte. Bekam einer von ihnen nur den richtigen Tipp von einem Passanten, der mich erkannt hatte, musste mein neuer Schutzengel schon kreativ werden, um mich da wieder raus zu ziehen!
Stattdessen folgte ich wieder meiner üblichen Routine. Wir überquerten eine Brücke zur Südhälfte Londons, im Laufen setzte ich mir die Kapuze meines Pullovers auf, steckte meine Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern ein Stück nach oben. So verbarg ich bestmöglich mein Gesicht und wirkte nach außen aber bloß, als würde mich der aufkommende frische Wind frösteln. Steven beäugte mich kurz skeptisch, zuckte dann aber mit den Schultern und seufzte. „Und was jetzt?"
„Jetzt besorge ich mir Infos", murmelte ich so leise, dass hoffentlich nur er mich gehört hatte. Die einzigen Infos über alles, was aktuell in der Welt geschah, bekam ich nur über drei Dinge: Gespräche anderer Leute, Aushänge an Laternen oder Litfaßsäulen und Zeitungen. Aber diese drei Sachen fand man zum Glück eigentlich immer in oder um Stadtparks herum. Viele Berufstätige zum Beispiel ließen ihre Zeitungen auf den Bänken zurück, wenn sie sie ausgelesen hatten. Dafür war ich ihnen unendlich dankbar. So hatte ich nämlich auch noch etwas davon und es war ein total normales Bild, dass auch Ausgestoßene wie ich hierher kamen, um für ein paar Minuten die Sonne zu genießen, zu lesen und dabei unauffällig von vorbei gehenden Leuten interessante Gesprächsfetzen aufzuschnappen. Etwa eine halbe Stunde verbrachte ich jeden zweiten Tag oder so damit, mir auf diesen Wegen Infos zu beschaffen. Als mein Verbrechen noch relativ frisch hinter mir lag, hatte ich mich auch noch häufiger hierher oder auf öffentliche Plätze getraut, aber immer nur, um eine Zeitung einzusammeln und schnell wieder zu verschwinden. Denn damals hatten die Litfaßsäulen noch regelmäßig mein Gesicht geschmückt und es war wirklich unglaublich, wie-!
„Passt du überhaupt noch auf?"
Erschrocken blieb ich wie angewurzelt stehen und schaute mich nach Steven um, der mich eben aus meinen Gedanken geweckt hatte. Er stand in einer Menschengruppe hinter mir, alle in einer Linie vor mir aufgereiht und mein Begleiter verdrehte in diesem Moment genervt seine Augen. Boah, war der Kerl auch schon lebendig so ätzend gewesen wie jetzt? Ich wollte schnauben und ihm möglichst unauffällig seine Respektlosigkeit heimzahlen, als ich inne hielt. Warteten die anderen hier auf etwas? Sie standen dicht gedrängt beieinander, aber niemand bewegte sich. Dann fiel mein Blick auf ihre Füße und mir wurde heiß. Die Kante vom Bürgersteig. Ich war geradewegs auf die Straße gelaufen, ohne es zu bemerken oder mich umzuschauen! Eine Fahrspur hatte ich bereits bewältigt, bevor Steven mich gestoppt hatte, aber auf der zweiten stand ich noch erstarrt und ich hatte echt Glück gehabt, dass mich kein Auto erfasst hatte. Phew, das hätte auch leicht ins Auge gehen können!
Ich machte Kehrt um zu meinem Schutzengel zurück zu gehen und hörte erst am Reifenquietschen, dass ich gerade die zweite ungehörige Dummheit begangen hatte. Steven riss erschrocken seine Augen auf, sprang zu mir auf die Straße und stieß mich mit aller Kraft von sich, sodass ich ein Stück vom Boden abhob und schmerzhaft auf dem Asphalt ins Straucheln geriet. „Du absoluter Vollidiot!", brüllte der Junge mich noch an, als ihn auch schon der Doppeldeckerbus erfasste, vor den ich beinahe auf dem Rückweg gelaufen war und der jetzt schlitternd und jaulend zum Halten kam. Der Wagen traf Steven frontal und zog ihn unter die Reifen, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte. E-es hatte ihn voll erwischt! Was hatte ich nur getan?!
Die Scheibe wurde herunter gekurbelt und der schnauzbärtige Fahrer lehnte sich zu mir hinaus. "Sind Sie völlig verrückt? Achten Sie gefälligst auf die Straße!", brüllte der Mann mich wütend an, bevor er das Gaspedal durchdrückte und im Eiltempo weiterjagte. Um den blassen Teenager, den er statt mir angefahren hatte, schien er sich keine Sekunde lang einen Kopf zu machen.
Einer Panikattacke nahe rappelte ich mich auf und taumelte auf das zu, was jetzt regungslos als kleines Bündel zusammengekrümmt auf der Straße lag und kein Lebenszeichen mehr von sich gab. War ich jetzt zum zweiten Mal an seinem Tod schuld? Das hatte ich doch nicht gewollt! Auch wenn er gesagt hatte, dass er mich aus jeder Lebensgefahr retten würde, hatte ich mit solchen Maßnahmen niemals gerechnet! Ich hatte gedacht er würde, k-keine Ahnung?, die Zeit anhalten oder irgendwas ähnliches! Aber nicht, dass er sich für mich opferte!
Ich wollte gerade meine zitternde Hand nach ihm ausstrecken, als er laut aufstöhnte, sich auf den Rücken rollte und einmal tief ein- und ausatmete. "Mach. So. Ne. Scheiße. Nie wieder!", krächzte er und nur an seiner bebenden Stimme merkte ich, wie sehr auch ihm der Schock in den Knochen saß.
Bis zum Abend sprachen wir beide kein Wort mehr miteinander. Steven hatte sich wieder einigermaßen erholt, sämtliche Hilfe abgelehnt und knappe Zeit nachdem er sich aufgerappelt hatte so ausgesehen, als wäre niemals etwas außergewöhnliches passiert. Aber bei mir war das anders. Ich hatte schon beim ersten Mal schlimme Gewissensbisse gehabt und jetzt nochmal einen Menschen wegen meiner Dummheit und einer unüberlegten Entscheidung sterben zu sehen, war nicht einfach zu verkraften. Mehrmals hatte ich mich herumgedreht um zu schauen, ob der Kerl denn noch da war, und jedes mal schaute er nur abwesend in die Gegend. Selbst jetzt schien er mit seinen Gedanken immer noch in weiter Entfernung, der Zigarettenstummel zwischen seinen Lippen war beinahe vollständig abgebrannt und wenn er nicht aufpasste, würde er in wenigen Sekunden noch eine unschöne Verletzung davon haben. "Steven?", versuchte ich ihn aus seinen Tagträumen zu reißen. Er schaute auf, reagierte sofort auf meinen Hinweis und spuckte den letzten Rest des angekokelten Filters auf den Boden neben sich. Danach vergrub er seine Hände augenblicklich wieder in seiner Jacke und starrte erneut in die Ferne.
"Sorry wegen vorhin." Er ignorierte mich. "War echt bescheuert von mir gewesen."
"Halt die Klappe!", brummte er schließlich, ohne seinen Blick loszureißen. Ich seufzte und winkte ab: "Du mich auch!"
Kurzzeitig hellte sich sein Gesicht bei meinem Kommentar auf, dann wirkte er wieder so abweisend wie zuvor. "Irgendwelche Pläne?", wollte er wissen. Aber ich war beinahe genauso ratlos wie er. Die Informationen von heute waren nett gesagt enttäuschend gewesen, nichts interessantes oder weltbewegendes war seit vorgestern passiert. Meine Klamotten waren auch noch frisch genug, als dass ich mir neue besorgen oder meine jetzigen im Waschsalon für ein paar Münzen reinigen lassen musste. Vielleicht sollte ich mich langsam nach einem Schlafplatz für die Nacht umschauen, in dem Stadtgebiet hier gab es nur wenige bequeme Orte, an denen Leute wie ich übernachten konnten. Und die waren alle oft schon voll besetzt, wenn ich ankam. "Sag mal Steven, brauchst du zum Einschlafen eigentlich noch irgendein besonderes Ritual? Ne Gute-Nacht-Geschichte, warme Milch, sowas in der Art? Weil darauf werden wir heute verzichten müssen, mach dich auf ein paar ungemütliche Stunden im Freien gefasst. Nur damit du Bescheid weißt." Wieder keine Antwort, nur ein deutlich angepisstes Schnauben hinter mir.
Das nächste Versteck von unserer jetzigen Position aus war noch etwa fünfzehn Straßen weit entfernt, halb Müllhalde, halb Deponie für ausrangierte Möbel und alten, sperrigen Krimskrams, eingepfercht zwischen hohen Drahtzäunen und fensterlosen Häuserwänden, die sich meterhoch blind gen Himmel zogen. Mit ein wenig Glück konnte ich in der Nähe noch etwas Essbares ergattern und eine der durchgelegenen Matratzen oder vielleicht sogar eine Couch ergattern, aus deren Polstern die Metallfedern noch nicht wie Nägel heraus stachen. Wäre auf jeden Fall eine schöne Alternative zum Übernachten auf dem blanken Betonboden oder umgeben von Müllsäcken. Ich rief mir den Weg nochmals ins Gedächtnis, dann zottelte ich los, Steven knapp hinter mir wie mein Schatten.
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Sins
FantasíaAuf der nicht enden wollenden Verfolgungsjagd vor der Polizei bekommt der streunende Dan Hilfe von unerwarteter Seite! Er erhält einen Schutzengel, der ihm helfen und aus dieser misslichen Lage retten muss. Aber der Schein trügt, denn der rüpelhafte...