11: Game Over

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Ich hatte ein etwas seltsames Konzept von Zeit übernommen, seit ich auf der Straße lebte. Wochentage, Monate und Jahre verwendete ich einfach nicht oft genug, stattdessen orientierte ich mich an anderen Dingen: Wann in welchem Stadtteil die Müllabfuhr kam zum Beispiel, einige Märkte und Läden, die nur an Wochenenden geöffnet hatten und natürlich den Jahreszeiten, die mir so viel weiter halfen als Worte wie Montag, Sonntag, August oder Februar. Wenn es hell wurde, war es Zeit für mich, aufzubrechen und den Tag zu bestreiten. Viel mehr brauchte ich für gewöhnlich auch nicht.

Nach meinem Diebstahl, der im Nachhinein so furchtbar ausgeartet war, hatte ich mich sehr viel stärker an Zeitungen orientiert, in deren Kopfzeilen immer das genaue Datum stand. Unbewusst hatte es sich mir damals eingeprägt, aber mittlerweile hätte ich wieder schätzen müssen, wieviel Zeit genau seitdem vergangen war. Oder seit wann Steven nicht mehr bei mir war. Drei Monate waren es bestimmt noch nicht gewesen, vielleicht zwei, aber wie gesagt, sicher konnte ich mir bei Monatsangaben nicht sein.

Seitdem war meine Hand wieder ganz gut verheilt. Eine Narbe war zwar geblieben, aber was zählte war, dass sie das Schlimmste wohl überstanden hatte und zum Glück auch ohne schlimme Bakterien aufzulesen oder zu eitern. Insgesamt war die letzte Zeit sehr zu meinen Gunsten verlaufen. Ich hatte genug Essen gefunden ohne das Risiko einer Verfolgungsjagd einzugehen und auch die Polizei hatte mich in Ruhe gelassen. Fast war es so, als wäre der ganze Scheiß mit meiner Straftat nie passiert und als könnte ich mich wieder frei bewegen und tun und lassen, was ich wollte. Fast.

Es war noch relativ früh am Morgen, ich war wie so oft um diese Zeit schon auf Achse. Standpunkt wechseln, Essbares suchen, die übliche Routine. Ich wollte eben einen der riesigen Müllbeutel am Bürgersteig einer nicht sehr belebten Straße aufschlitzen und den Inhalt durchstöbern, als ich plötzlich etwas hartes, kaltes an meinem Kopf spürte, knapp oberhalb der Schläfe. Kühl, metallisch, fingerdick. Ich erstarrte. "Hände hoch, jetzt! Sie sind umstellt! Keine falsche Bewegung oder ich schieße!" Der harsche Ton ließ mir keinen Zweifel. Die Bullen. Sie hatten mich gefunden! Ich schluckte und versuchte, aus meinen Augenwinkeln meine Umgebung zu checken. Sie hatten nicht geblufft. Den einzigen Ausweg aus der Gasse hatten mehrere uniformierte Männer und Frauen verstellt, jeder von ihnen trug eine Handwaffe bei sich und richtete sie auf mich, als ich nicht sofort auf den Befehl reagierte.

"Hände über den Kopf! Sofort!", bellte die scharfe Stimme mich erneut an, der Druck des Pistolenlaufs nahm zu und ich verstand.

Es war zu spät. Ich hatte verloren. Geschlagen hob ich meine Arme über den Kopf, nur damit jemand hinter mir sie packte, schmerzhaft stark auf meinem Rücken zusammenpresste und mir dann Handschellen anlegte. Ein weiterer tastete mich währenddessen auf gefährliche Gegenstände ab, die ich eventuell bei mir trug. Mein bisschen Kleingeld, die Spiegelscherbe und mein Feuerzeug wurden mir entwendet. "Wo ist das Taschenmesser? Such weiter!" Eine zweite, noch gründlichere Durchsuchung, dann das Zeichen, dass ich clean war. Noch waren meine Gedanken wie leer gefegt und erst, als ich am Nacken nach oben gerissen und von dem Polizisten hinter mir vorwärts gestoßen wurde, schlug die Gewissheit in mir endgültig ein. Game Over. Das war das Ende. Man würde mich verurteilen und dann wartete das Gefängnis auf mich. Jahre ohne Freiheit, eingesperrt hinter Gittern, gnadenlos und zusammen mit den schlimmsten Gewaltverbrechern Londons. Ich hatte versagt, nachdem ich meinen Verfolgern so oft um Haaresbreite noch entwischt war. Obwohl ich stets aufmerksam gewesen war, musste ich irgendetwas übersehen haben. Ein einziger Fehler und schon war alles vorbei.

Mit dieser Gewissheit in mein Gedächtnis eingebrannt, stolperte ich vorwärts, inmitten einer Traube von Uniformierten, die mich nicht einen Moment aus den Augen ließen. Ein Spießrutenlauf bis zu den Polizeiautos, vorbei an Leuten, die neugierig ihre Hälse reckten und mir, wenn sie mich erkannten, gehässige Beleidigungen zuriefen. Das merkte ich aber kaum. Mit weit aufgerissenen, leeren Augen setzte ich bloß einen Fuß vor den anderen, war gedanklich gar nicht richtig anwesend. Stattdessen durchlebte ich gleichzeitig mit der Eskorte eine Achterbahnfahrt durch die Hölle. Der panische Druck, der mein Herz erbarmungslos zu zerquetschen drohte, nahm mit jedem Schritt weiter zu. Dann kamen wie erwartet die Panikattacken, in kurzen Schüben und so heftig, dass ich mehrmals unsanft über meine eigenen Füße stolperte. Kurz vor unserem Ziel brach ich im Laufen sogar zuckend zusammen und die Männer mussten mich wieder unsanft aufrichten, weil mir selbst die Kraft dazu fehlte. Sollte ich im Auto noch in Ohnmacht fallen, wäre das für mich wahrscheinlich nicht weiter verwunderlich. Aber bis auf einige weitere Angstschübe, durch die ich zitterte und mir schwindelig wurde, blieb ich bei Bewusstsein.

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