Dieses Mal war er auch endgültig verschwunden. Egal wie lang ich noch wartete, dass er wieder zurück kam. Aber ich blieb bei dem, was ich ihm zum Schluss gesagt hatte. Ich war weder egoistisch, noch unfähig zu fühlen, und das musste Steven auch sein, wenn er erlöst werden wollte. Sobald wir beide uns in die Lage des jeweils anderen versetzen konnten, würde es funktionieren, da war ich mir sicher. Doch bis wir an diesem Punkt ankamen, lagen scheinbar noch Welten.
Als sich der Himmel über den Häusern langsam von blau zu feuerrot verfärbte und die Dämmerung einläutete, raffte ich mich endlich auf, schleppte mich aus der Straße und Richtung Themse zurück. Ich hoffte, dass die Bullen ihre Suche mittlerweile aufgegeben hatten und ich schnell und ungesehen meine Wunde samt Verband auswaschen konnte. Der war nämlich bereits komplett mit Blut voll gesogen.
Der Weg dahin war so gut wie verlassen und es dauerte nicht lange, bis ich mich einsam fühlte. Auch wenn es nicht lange gewesen war, ich hatte mich daran gewöhnt, dass mir jemand nachlief, der nicht von der Polizei war und mich im nächsten Moment einknasten wollte. Obwohl Steven dauerhaft rumgemeckert und seiner schlechten Laune nachgehangen hatte, war es mit ihm irgendwie erträglicher gewesen. Ich vermisste ihn nicht besonders, aber ich wünschte, ich wäre plötzlich nicht mehr wieder ganz alleine.
Am Ufer der Themse angekommen bemerkte ich, dass ich nur wenige hundert Meter von der London Bridge entfernt war, über die ich vorhin mit meinem Begleiter geflohen war. Ob es sicher war, sie gleich noch einmal zu überqueren? Oder brachte ich damit eventuelle Verfolger wieder auf meine Fährte? Vorsichtshalber entschloss ich mich, stattdessen die Southwark Bridge zu meiner rechten Seite zu nehmen, schlich hinunter zum Ufer und hielt meine Hand in das strömende, eiskalte Wasser. Zuerst stach es ziemlich heftig, schließlich war es auch nicht so sauber wie vorhin das Leitungswasser aus der Flasche, aber es musste reichen. Andere Optionen besaß ich momentan nicht. Langsam gewöhnte ich mich an die niedrige Temperatur und atmete tief durch. Als ich fertig war und vorsichtig das beinahe geronnene Blut aus dem Verbandsstoff gewaschen hatte, beugte ich mich hinunter und trank noch gierig ein paar Mundvoll. Wenn ich jetzt noch etwas essbares fand, war der Tag beinahe schon wieder gut.
Ich erinnerte mich, dass auf der Südseite der Themse der Borough Market war, gar nicht weit weg von hier, und dort selbst zu dieser Zeit gewöhnlich noch reger Betrieb herrschte. Mit ein wenig Glück und Geschick konnte ich mir vielleicht etwas von einem der Stände klauen, auf die nicht gerade eine lästige Überwachungskamera zeigte. Besser als Abfall. Damit war es auch schon beschlossene Sache und ich machte mich zügig auf den Weg.
Ein paar Minuten Fußweg später hatte ich die überdachte Einkaufspassage gefunden und an einem Stand mit frischem Obst und Gemüse bot sich mir eine optimale Gelegenheit. Die Auslagen besaßen einen blinden Fleck, den die Verkäuferinnen hinter dem Kassentisch nicht genau im Blick behalten konnten. Ich merkte ihn mir, strich eine ganze Runde durch den Markt als ich wieder am Zielpunkt angelangt war, griff ich flink und doch unauffällig nach zwei Äpfeln, die sofort in meine Taschen glitten. Eine Passantin schaute mich strafend an, aber das Personal schien nichts von meinem Diebstahl bemerkt zu haben.
Aber irgendetwas musste doch schief gegangen sein, denn zwei Stände weiter sah ich drei muskulöse Kerle mit Funkknöpfen im Ohr, die sich ganz offenbar nach jemandem umschauten. Keine Polizisten, aber vermutlich Security oder Ladendetektive. Möglichst unauffällig machte ich Kehrt und versuchte, durch einen anderen Ausgang zu entkommen, aber einer musste doch auf mich aufmerksam geworden sein und folgte mir, bis er nahe genug war, um seine Hand auf meiner Schulter zu platzieren. „Guten Abend Sir, wir möchten Sie bitten ihre Taschen zu leeren", grüßte er mich höflich, aber bestimmend und ohne mich loszulassen. Ich überlegte schnell und drehte mich zu ihnen um. Ja, das sollte hoffentlich funktionieren. „Wieso denn? Stimmt etwas nicht?"
„Nun, wir haben einen Tipp bekommen, dass-" Weiter ließ ich den Mann nicht ausreden. Bei der ersten Chance riss ich mich los und stürmte davon. Wenn die mich erwischten oder für ein paar Sekunden genauer betrachteten, dann war es aus für mich! Glücklicherweise schien der Uniformierte aber nicht damit gerechnet zu haben, dass ich flüchten würde, denn mich hielt niemand auf oder riss mich zu Boden, bis ich wieder im Freien war. Trotzdem schaute ich keine Sekunde lang zurück oder wurde langsamer, bis ich mir nach einer viertel Stunde im Sprint ganz sicher sein konnte, dass mich keiner mehr verfolgte. Für zwei Äpfel würden nicht einmal die ambitioniertesten Trottel einen Dieb weiter als zehn Häuserblöcke weit jagen.
In einer verlassen wirkenden Parkanlage drosselte ich schließlich mein Tempo, schaute mich sicherheitshalber nochmal genau um und fischte dann im Licht einer Straßenlaterne meine Schätze aus den Taschen hervor. Sah gut aus. Beide waren etwas größer als meine geballten Fäuste und hatten weder Druckstellen, noch andere äußerlichen Merkmale, die unattraktiv gewirkt hätten. Perfekt, obwohl ich auch Mängelware einem leeren Bauch dankbar vorgezogen hätte.
Doch beim ersten Biss musste ich feststellen, dass das Obst noch nicht ganz reif sein konnte. Das Fruchtfleisch war steinhart und der saure Saft trieb mir die Tränen in die Augen. Es dauerte lange, bis ich auch noch den letzten Bissen zerkaut und herunter geschluckt hatte und als ich fertig war, fühlte ich mich hundsmiserabel. So viel zu einer sich lohnenden Mahlzeit...
Eine Stunde zog ich noch umher und durchstöberte an versprechend aussehenden Plätzen die Müllberge, bis es zu dunkel wurde und ich mich in einer Häusernische für die Nacht versteckte. Unbequem, aber seinen Zweck würde sie hoffentlich erfüllen. Während ich meinen Kragen höher zog und die Knie an meinen Körper presste, dachte ich an Steven. Wo er jetzt wohl war? Bei seiner Familie? Plante er, seine restliche Zeit auf der Erde mit ihnen zu verbringen, selbst wenn sie ihn nicht sehen oder anders wahrnehmen konnten? Das war für mich das Naheliegendste. Aber den Fehler, mich in ihre Nähe zu begeben, um meine Vermutungen zu überprüfen, würde ich bestimmt nicht noch einmal machen!
Wollte Steven zurück kommen, um doch noch erlöst zu werden, sollte er den Schritt machen und dringend an seiner Strategie arbeiten. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass die Misserfolge allein meine Schuld waren. Er musste auch mir vergeben können für meinen Fehler, es war nur logisch je länger ich darüber nachdachte! Und hätte er mir zugehört, wie es zu unserem ersten blutigen Aufeinandertreffen gekommen war, dann hätte er mich vielleicht auch verstanden...
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Sins
FantasyAuf der nicht enden wollenden Verfolgungsjagd vor der Polizei bekommt der streunende Dan Hilfe von unerwarteter Seite! Er erhält einen Schutzengel, der ihm helfen und aus dieser misslichen Lage retten muss. Aber der Schein trügt, denn der rüpelhafte...