4: Hohlkopf

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Tatsächlich waren wir beinahe die ersten, die heute dieses von Obdachlosen heißgeliebte Quartier angesteuert hatten. Nur drei andere Typen hatten bereits ihr Nachtlager hier aufgeschlagen und schienen dazu gewillt, ihre Schlafplätze mit Krallen und Zähnen bis zu ihrem Tod verteidigen zu wollen. "Gemütlich, nicht?", flüsterte ich Steven zu, der neben mir zum Stehen gekommen war und skeptisch diese ungewohnte Umgebung betrachtete. Mit einer leichten Kopfbewegung machte ich ihn auf die Reihe Mülltonnen aufmerksam, die am Eingang der Häuserschlucht standen und noch relativ unberührt aussahen. Wenn dort etwas für mich zu holen war, musste ich nicht nochmal zu den Containern hinter dem Supermarkt in der Nähe, an denen sich gefühlt die halbe Stadt nach Ladenschluss bediente. Irgendwas warfen die Bewohner der Wohnhäuser hier aber immer weg, vielleicht ein Bündel Weißbrotscheiben, die noch nicht vergammelt waren und nur ein paar Tage über dem Verfallsdatum lagen, eine Packung Kräuterquark oder ein paar Käsereste, die keiner aus dem Haushalt mehr essen wollte. Ich war nicht wählerisch und schlimmer für mich war viel eher, genug trinkbare Sachen zu finden. Wer schmiss denn bitte eine volle Wasserflasche oder ne Fanta weg? Schlecht werden konnten die ja praktisch nie. Anfangs hatte ich noch Pfandflaschen gesammelt, um mir von dem Kleingeld meinen Tagesbedarf auf ehrliche Weise zu decken, aber früher oder später hatte ich feststellen müssen, dass das auf Dauer kaum möglich war. Viel zu oft hatte ich mich dumm und dämlich gesucht, weil andere Obdachlose bereits in den frühen Morgenstunden aufgebrochen waren und nichts auf ihren Streiftouren übersahen und liegen ließen. Und seit dem Tag, an dem überall Fahndungsplakate von mir aufgetaucht waren, konnte ich mich eh nicht mehr allzu oft oder lange in mit Kameras überwachten Läden blicken lassen, ohne sofort die Polizei im Nacken zu haben.

Mein Begleiter beobachtete mit einer Mischung aus Abneigung, Scham und Ekel, wie ich die Deckel der Mülltonnen öffnete und sofort sämtliche Beutel mit einer spitzen Spiegelscherbe aufschlitzte, die ich seit dem Verlust meines Taschenmessers als Werkzeug wie auch als Notfallwaffe zur Sicherheit immer bei mir trug. Umsichtig schüttete ich den Inhalt der Tüten zurück in die Tonne, trennte unbrauchbaren Inhalt von noch essbaren Lebensmitteln und riskierte währenddessen immer mal wieder einen Blick neben mich. Na, hatte es ihm etwa die Sprache verschlagen? Dabei war heute ziemlich viel gutes Zeug dabei! Naserümpfend begutachtete er die Schätze, die ich ihm im Anschluss an meine Suche entgegen streckte: Zwei eingewickelte, harte Brötchen, ein wenig Wurst, eine halbvolle Konserve mit eingelegtem Obst und sogar ein kleines Trinkpäckchen voll Apfelsaft. Glückstreffer!

"Willst du was?", fragte ich Steven und warf ihm gnädigerweise eins der Brötchen zu. Er machte jedoch keine Anstalten, seinen Anteil zu fangen, sondern sah nur dabei zu, wie es an ihm vorbei flog, ein Stück weiter rollte und schließlich halb in eine Pfütze getunkt liegen blieb. Ich verdrehte die Augen: "Schönen Dank auch, sag doch gleich wenn dus nicht willst. Ich hätte nichts gegen eine größere Mahlzeit als sonst gehabt!"

Wütend stapfte ich los, fischte nach dem aufgeweichten Ding, roch daran und warf es enttäuscht zur Seite. Zu gefährlich, in dem Brackwasser konnten sich sonst was für Bakterien tummeln. Danke auch Steven, ich war gespannt, wie er mich vor dem Hungertod retten wollte, wenn er mich so um mein Essen brachte. Nur weil ich einmal nett zu ihm sein wollte.

Er beobachtete mich unablässig, während ich im Schneidersitz mein Nachtlager für heute, ein ziemlich heruntergekommenes Sofa, reservierte und gierig abwechselnd einen Bissen von meinem übrigen Brötchen und der Salami nahm. Was? Erwartete er ehrlich, dass ich noch mehr meiner kostbaren Lebensmittel an ihn verschwendete? "Ey hör mal, anstatt mich weiter anzugeiern kannst du dir dein Essen auch gerne selber besorgen, es gibt genug Abfalleimer hier in der Nähe", belehrte ich ihn aufgebracht, als er einige Minuten später immer noch nicht seinen Blick von mir abgewendet hatte. Er gähnte: "Ich bin ein Geist, verdammte Scheiße. Ich brauch nichts mehr essen. Behalt deinen widerlichen Fraß für dich!"

Pfff, verwöhntes Balg. Ich hatte mein halbes Leben nichts anderes erfahren als das, was er leichtherzig „widerlichen Fraß" nannte. Zwar kannte ich die Kehrseite gut, erinnerte mich daran wie es war, mit Besteck auf ordentlichen Tellern zu essen und auch nur Sachen, die abgewaschen und frisch waren, aber Stevens Arroganz bewies, dass er mir nicht vorzuspielen brauchte, was für ein armes, armes Kind er doch war. Er hatte mit Sicherheit nie nachts gefroren oder sich Gedanken darum gemacht, was und wann überhaupt er das nächste Mal wieder etwas zwischen die Zähne bekam. Bestimmt kam er auch aus recht guten Verhältnissen, seine Klamotten sahen nur halb so gangsterhaft lässig und abgetragen aus, wie er gerne wirken wollte. Typischer Fall von Jugendlichen heutzutage: In schmutzigen Gassen rumhängen und Kette rauchen war mega angesagt, aber für Mahlzeiten und Unterkunft zogen sie Hotel Mama dem Straßenleben natürlich immer vor. Sie sollten besser etwas ordentliches aus sich machen, bevor sie noch endgültig und ausweglos in meiner Realität endeten...

Als mir auffiel, wie intensiv ich Steven gerade untersucht und angestarrt haben musste, wandte ich mich sofort demonstrativ ab und blinzelte ins Halbdunkel. In der knappen viertel Stunde, die seit meiner Ankunft vergangen war, hatten sich noch fünf andere Männer hier blicken lassen. Zwei ganz offensichtlich erfolgreiche Bettler, sie besaßen Rucksäcke mit Decken und Trinkflaschen darin und konnten sich sogar belegte Brötchen von Bäckerständen leisten, die anderen waren offenbar alkoholabhängige Penner gewesen. Einer war im Angesicht der Konkurrenz wieder gegangen, doch vor wenigen Minuten hatte es einen ziemlich erbitterten Kampf um die Schlafplätze gegeben. Ich hatte gelernt, bei sowas wegzuschauen und kein Mitgefühl zu haben, als die Verlierer aus der Keilerei humpelnd und sogar mit einer bösen Schnittwunde gekennzeichnet in einen anderen Winkel des Möbeldepots umgezogen waren. Morgen konnte das bereits ganz anders aussehen. Vielleicht hatte jemand bis dahin seinen schlafenden Kontrahenten im Schutz der Nacht erwürgt oder nieder gestochen, um an dessen Schlafplatz zu kommen. Waren finstere Zeiten und am besten war es eh, selbst keinen Streit anzufangen, Raufbolden aus dem Weg zu gehen und nachts mit einem offenen Auge zu schlafen. Außer natürlich...?

"Musst du dann eigentlich auch nicht schlafen?", sprach ich meinen plötzlichen Gedankenblitz laut aus und schaute wieder zu Steven hinüber. Er musste mich schließlich auch dann beschützen, wenn jemand heute noch vorhaben sollte, mich im Schlaf abzumurksen! Gerade streckte er sich ausgiebig und hielt mitten in einer seiner Übungen inne. "Muss ich nicht, aber ich machs trotzdem. Dir mehrere Stunden beim Sabbern und Träumen zuzuschauen klingt nicht sehr verlockend. Und falls du abhauen solltest, würde ich das merken, also komm nicht auf dämliche Ideen. Gute Nacht du Hohlkopf."

Er drehte sich zur Seite, beendete sein Verrenkungsyoga und wollte es sich bereits auf dem Boden bequem machen, als ich ihn aufhielt. "Sollten wir vielleicht dieses Erlösungsdingens nochmal probieren? Ich meine, wenns klappt muss ich mir jedenfalls nicht eine ganze Nacht dein Schnarchen anhören."

Steven zuckte mit den Schultern. Sollte nicht gerade er eigentlich Feuer und Flamme dafür sein, dass wir das wann immer möglich versuchten? Er war ja derjenige, der so dringend in den Himmel wollte, nicht ich. Egal, ich war jedenfalls geduldig, solange bis es funktionierte und ich ihn los war.

"Es tut mir leid, dass ich dich getötet habe!", murmelte ich mit gesenkter Stimme und stellte mir dabei noch einmal das Bild von heute Vormittag vor, als der Junge überfahren und scheinbar tot auf der Straße vor mir gelegen hatte. Das wünschte ich echt keinem, nicht einmal meinem schlimmsten Feind, wenn ich einen hätte. Und obwohl er unfreundlich, undankbar und großmäulig war, empfand ich schon Mitleid für ihn. Er hätte ein durchaus längeres Leben verdient als das, was er bekommen hatte.

"Und ich vergebe dir deine Sünde!", rasselte Steven gelangweilt seinen Teil des Textes herunter, wartete einige Sekunden und stöhnte dann. "Geil, wie du willst. Dann wirds wohl doch keine ruhige Nacht für dich!" Damit wandte er sich komplett von mir ab und rutschte ein wenig auf den unebenen Steinplatten hin und her, bis er einigermaßen bequem dalag. Neugierig schielte ich auf seinen Hals, aber da quoll noch immer die frische rote Flüssigkeit aus der Haut hervor, und auch sonst entdeckte ich keine äußerlichen Veränderungen wie beim letzten Mal. Was machte ich nur falsch? Mir tat es doch schon leid, ehrlich! Sollte ich erst vor ihm auf den Knien rutschen und seine Füße küssen, bis es als genug Reue galt und er endlich frei war? Weil das würde trotz aller Schuldgefühle so schnell nicht passieren, da konnte er sich sicher sein. Das wäre keine Reue, das war bloß erniedrigend! Leise murrend drehte ich mein Gesicht zu den Rückenpolstern der Couch, starrte gegen den Stoff und wartete darauf, dass die Müdigkeit mich übermannte. Hoffentlich würde der Kerl neben mir auch im Tiefschlaf mitkriegen, wenn die besoffenen Männer von vorhin wiederkommen sollten und vorhatten, mir den Garaus zu machen.

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