14: Daniel Hooper ist tot!

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"Dan? Dan!"

Huh? Da rief mich jemand. War ich doch nicht nur für ein paar Minuten weggedöst? Ich fühlte mich tatsächlich, als hätte ich einen ganzen Winterschlaf gehalten, der jedem Bär Konkurrenz gemacht hätte. Erholt war ich deswegen aber nicht, ganz im Gegenteil. Mein Körper war schwer wie ein Felsbrocken und fühlte sich an, wie durchgekaut und ausgespuckt. Außerdem war mir verdammt kalt! Und ich brauchte eine Weile, bis ich die Stimme demjenigen zuordnen konnte, der mich gerade versuchte zu wecken. Steven, der rüpelhafte Schutzengel, der mich beinahe ersoffen hätte.

"Komm schon man, mach die Augen auf du Trottel! Daniel!"

Ich versuchte es, aber es stellte sich als verdammt schwierig heraus. Meine Augenlider fühlten sich verklebt und eisern an. Mehr als ein schwaches Flattern schaffte ich nicht, bevor ich es erschöpft aufgab. So funktionierte das nicht. Ich konnte Steven darüber nicht einmal Bescheid sagen, weil meine Stimme mir nicht gehorchen wollte. Der Junge klang mittlerweile verzweifelt: "Scheiße, sag mir bitte, dass du mich nur verarschst! Ich war mir doch sicher, das würde so funktionieren! Los, gib mir ein Zeichen, irgendetwas!"

Mit aller Kraft presste ich ein Geräusch zwischen meinen Lippen hervor, aber alles, was ich damit erreichte war, dass mir plötzlich furchtbar übel wurde. Mein Körper rebellierte und im nächsten Moment hustete ich mehrere mundvoll Wasser auf den Boden neben mich. Gleichzeitig fühlte ich das betäubende Gewicht allmählich von mir weichen, Sekunden später konnte ich schon wieder meine Arme und Beine bewegen und Steven neben mir atmete erleichtert auf. "Phew, du kannst einem Angst einjagen. Ich dachte schon, du verreckst mir noch auf den letzten Metern", gestand er und obwohl ich immer noch nicht meine Augen öffnen konnte, hörte ich ihn eindeutig lächeln.

"Wo sind wir?", krächzte ich eine Weile später, als mein Hals sich nicht mehr gereizt anfühlte und meine restlichen Sinne auch nach und nach wiederkamen. Jetzt konnte ich sogar schon wieder einigermaßen ordentlich blinzeln, doch außer hell und dunkel erkannte ich noch nichts von meiner Umgebung. "In der Nähe von einem Kaff namens Cliffe", antwortete mein Begleiter, "Gibt ein paar Buchten und Seen hier, die an die Themse anschließen. Hier solltest du erst einmal sicher vor der Polizei sein."

Die Polizei... Stimmt, vor denen waren wir vorhin noch geflüchtet! Der kleine Adrenalinstoß brachte mich jetzt dazu, mich aufzusetzen und mich umzuschauen. Vor uns lag eine Weidelandschaft mit kleinen Baumgruppen überall verteilt, hinter uns das Ufer einer dieser Seen. Ich konnte sogar das platt gedrückte Gras noch überall dort sehen, wo Steven mich aus dem Wasser geschleift haben musste. Aber... "Wozu der ganze Aufwand? Hätten wir nicht einfach in London untertauchen können?"

Steven zuckte mit den Schultern: "Und dann fangen die dich in 'nem halben Jahr wieder? Vergiss es, du hattest bisher echt Schwein gehabt, dass du nicht schon lange im Gefängnis gelandet bist. Die Polizei ist nicht dumm. Aber wenn jemand von einer Brücke springt und über 'ne halbe Stunde lang nicht mehr auftaucht, müssen auch die stursten Bullen irgendwann denken, dass du ertrunken bist!"

Langsam begriff ich endlich seinen Plan. Die Polizei würde denken, dass ich nicht mehr am Leben war, die Fahndung nach mir abblasen und meine Plakate und Fotos aus London entfernen! Dann war ich wieder ein freier Mann! "Danke Steven!", sagte ich und meinte es auch aufrichtig so. Trotz der Strapazen war das tausendmal besser, als ständig auf der Flucht vor dem Gesetz zu sein. "Aber eine wichtige Frage hab ich noch."

"Schieß los."

Ich musste grinsen: "Du heißt wirklich Lennox mit Zweitnamen?"

Steven schnaubte leise und zeigte mir belustigt den Mittelfinger. "Bekommt dir die frische Luft nicht, Kumpel? Willst du nochmal 'ne Runde im Wasser tauchen?"

"Nein, danke", klapperte ich mit den Zähnen und spürte wieder, wie unglaublich kalt mir war. Meine Kleidung war immer noch klatschnass und im nächsten Augenblick nieste ich lautstark. "Ah, können wir irgendwo einen Unterschlupf-"

Noch bevor ich den Satz beenden konnte, wurde mir plötzlich wohlig warm und das Wasser aus meinen Klamotten verpuffte rund um mich herum in feinen Dampf. Augenblicklich waren sie so trocken, als hätten sie für Stunden in der prallen Sonne gehangen. Und die Handschellen um meine Unterarme fielen mit einem leisen Rasseln ins Gras, wie von Zauberhand geöffnet. "Gern geschehen", lächelte Steven, stand auf und bot mir seinen Arm an, an dem ich mich hoch und zurück auf meine Beine ziehen konnte. Wow, was war aus dem grummeligen, unfreundlichen Jungen geworden? Er konnte ja doch ganz anders! Eine schöne Wendung, so konnte es gerne bleiben.

Nach wenigen Minuten fanden wir zwischen den Bäumen einen Pfad und befestigte Wege. Das Gelände schien eine Art Park zu sein, aber zur Dämmerung war hier nicht mehr viel los. Nur ein Pärchen kam uns entgegen geschlendert auf unserem Weg Richtung Cliffe. "Was wollen wir dort eigentlich?", fragte ich Steven, der voraus marschierte, als kannte er sein Ziel genau. Er antwortete: "Wir wollen in ein Pub."

"Etwa einen trinken?"

"Was? Quatsch, wir wollen Fernsehen! Die Nachrichten!" Steven schüttelte den Kopf und zündete sich eine Zigarette an. "Einen trinken, du bist lustig."

Nachrichten sehen klang auch für mich viel besser. Seit Tagen hatte ich schon in keine Zeitung mehr geschaut und natürlich wollte ich auch wissen, ob Stevens Plan bereits Wirkung gezeigt hatte. Bald kamen die ersten Häuser in Sicht und mein Nebenmann hielt mich mit einem Arm zurück. "Setz dir besser noch deine Kapuze auf, nur vorsichtshalber." Als ich seinem Rat umgehend folgte, grinste er breit: "Braver Daniel!"

Ein Pub war schnell gefunden in der beinahe dörflich anmutenden Ortschaft und mit gesenktem Kopf öffnete ich die Tür ins warme Innere. Es herrschte Hochbetrieb, kaum ein Stuhl war noch frei, doch die Aufmerksamkeit der meisten Leute galt dem Fernseher, auf dem ein Sportspiel übertragen wurde. Steven und ich zogen uns in eine Ecke zurück, aus der der Monitor gerade noch sichtbar war und ich nicht sonderlich auffiel und dann hieß es warten, bis die nächsten Nachrichten kamen.

Das Spiel lief noch eine viertel Stunde, Gäste jubelten für die Sieger und schon war es soweit, der Moment der Wahrheit. Mein Beitrag war schließlich der vorletzte. Sie blendeten mein Steckbrieffoto ein und darunter lief ein Schriftzug entlang: Daniel Hooper ist tot.

Der Sprecher räusperte sich leise. "Nach drei Monate langer Fahndung war es der Polizei gestern gelungen, den Verbrecher Daniel Hooper zu fangen und in Gewahrsam zu nehmen. Dem Mann gelang zwar auf spektakuläre Art und Weise die Flucht, endete jedoch tödlich, nachdem er von der Jubilee Bridge sprang – oder gestoßen wurde. Augenzeugen zu Folge soll er ertrunken sein und auch die Experten der Polizei sind zu diesem Ergebnis gekommen... Und nun das Wetter für die nächsten Tage!"

Doch schon vor der Wettervorhersage wechselte jemand vom Personal den Sender bis zu einem, auf dem gerade ein neues Sportspiel begann. Um uns wurden Köpfe geschüttelt, Krüge angestoßen und getuschelt. Steven lehnte sich sichtlich zufrieden mit sich und der Welt zurück. Daniel Hooper war tot. Dass ich den Satz mal hören würde, hätte ich nie gedacht. Und dass ich mich darüber freuen würde sogar noch weniger.

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