8: Anfängerfehler

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Aber Bermondsey war nicht unser endgültiges Ziel gewesen. Steven scheuchte mich immer weiter, die Bahnschienen entlang bis zur Shard, diesem riesigen Wolkenkratzer aus Glas, und von dort über die London Bridge weiter nach Norden. Erst gegen Nachmittag schien er sich sicher genug zu fühlen und erlaubte mir endlich, eine größere Pause einzulegen. Bis dahin war ich aber schon klatschnass geschwitzt. Ich schnaufte und hatte das Gefühl, keinen weiteren Schritt mehr gehen zu können, ohne sofort zusammenklappen. Im gleichen Augenblick knurrte auch noch mein Magen, ich hatte heute schließlich noch keinen Happen gegessen. Geschweige denn etwas getrunken. Mein Mund fühlte sich so trocken an wie eine ganze Wüste.

"Ich... ich kann... nicht mehr weiter", stellte ich keuchend klar und setzte mich in den Schatten einer Häuserwand. Mir doch egal, ob Steven mich jetzt für eine Pussy hielt oder nicht, aber er nickte zustimmend. Obwohl er ein Geist war, sah er gerade mindestens genauso fertig aus wie ich. Erschöpft legte ich meinen Kopf in den Nacken und lauschte, schöpfte langsam neue Kraft und ließ den Vormittag nochmal Revue passieren. Das war mir alles zu knapp gewesen, um ein Haar hätte man mich gefunden! Wir mussten uns in Zukunft besser überlegen, wohin wir gingen und wen wir besuchten. Oft hielt ich solchen Stress nämlich nicht aus.

Ein leises Schniefen riss mich aus meinen Gedanken. Ich drehte mich zu Steven um, der sich neben mich gesetzt und sein Gesicht in seinen Händen vergraben hatte. "Sie vermissen mich... Und ich konnte mich nicht von ihnen verabschieden, nicht einmal jetzt. Ich würde ihnen so gerne sagen, dass es mir leid tut!" Er wusste, dass er meine Aufmerksamkeit hatte. Vielleicht wartete er noch darauf, dass ich nachfragte, was genau ihm leid tat, doch er redete auch weiter, als ich weiterhin schwer atmend schwieg. "Wir hatten uns an dem Tag gestritten und ich war von Zuhause weggelaufen. Eigentlich wollte ich für einige Zeit bei einem Kumpel unterkommen, aber ich habe mich schuldig gefühlt. Ich hab zu meiner Mom Dinge gesagt, die ich nicht zurücknehmen konnte und schon am gleichen Abend hatte ich vor, zurückzugehen und mich bei ihr dafür zu entschuldigen. Doch dann hab ich dich getroffen. Das ist einfach nicht fair!" Er verstummte und kämpfte, den Kopf auf den verschränkten Armen ruhend, gegen die Tränen an. Stumm starrte ich zu Boden. Seine Wortwahl war kalkuliert, er wollte damit Schuldgefühle in mir zu wecken, aber ich empfand trotz dieser egoistischen Absicht immer mehr Mitleid mit ihm. Vorsichtig rutschte ich näher an Steven heran, um ihm auf die Schulter zu klopfen, besann mich kurz davor jedoch anders. Noch hatte ich seine bissige Seite nicht vergessen und Kommentare darüber, dass er meinen Trost nicht brauchte, wollte ich auch nicht unbedingt provozieren.

"Lass uns weitergehen, ich brauch was essbares!", meinte ich einige Minuten später, als das Grummeln aus meinem Bauch nicht mehr zu überhören war, und rappelte mich auf. Steven folgte mir wortlos, aber ich konnte spüren, wie er meinen Rücken mit erwartungsvollen Blicken durchbohrte. Ich seufzte innerlich. War ja klar. Das war nicht das Ziel seines Gefühlsausbruchs gewesen. Konnte mir aber gerade egal sein, bevor ich nicht etwas gegessen hatte, würde das mit dem Erlösen bestimmt eh nicht klappen. Ich war viel zu hungrig, um mich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren. Außerdem hatte ich ihn doch gestern Abend noch dazu überreden müssen, einen Versuch zu starten, warum drängelte er mich plötzlich so sehr? Oder bildete ich mir das nur ein und in Wahrheit dachte er doch bloß an seine Familie? Es war ja relativ verständlich, dass er sie sehen nochmal wollte um zu schauen, ob sie diesen Schicksalsschlag irgendwie verkraftet hatten...

Ich stürzte mich förmlich auf die erste Mülltonne, die in Sicht kam, zerriss die Plastetüten mit den Händen und wühlte mich ohne Rücksicht auf gefährliche Gegenstände durch den Abfall. Kein Erfolg. Stattdessen passierte das, wovor ich mich dabei immer gefürchtet hatte. Ohne Vorwarnung griff ich in etwas scharfes, das mir einen langen, tiefen Schnitt in die linke Handfläche jagte und mich vor Schreck und mit einem lauten Fluch zurückschrecken ließ. Scheiße, wie blöd war ich denn nur? Da hatte ich schon ein Werkzeug für solche Aufgaben und setzte es in meiner Gier nicht ein. Ein böser Anfängerfehler war das gewesen und die Folgen konnte fatal sein! Bestimmt hatten sich an dem Stück Abfall Bakterien getummelt. Und selbst falls nicht, wenn ich die Wunde nicht schnellstmöglich desinfizierte und verband, würde immer mehr und mehr Dreck drankommen und sich früher oder später schlimm entzünden. Nein, ich dachte das nicht nur so zum Spaß. In der Gang hatte es einen Typen gegeben, der wegen einem ähnlichen Vorfall seinen kompletten Arm kaum noch benutzen konnte und mittlerweile wahrscheinlich an den Spätfolgen verreckt war. Da sah ich auch schon die ersten Bluttropfen aus dem Schnitt heraus quellen und das Handgelenk nach unten laufen.

"Fuck!", stieß ich zischend hervor und suchte nach etwas sauberem, das ich auf die Einschnittstelle pressen konnte, aber hier auf der Straße war das so vergebens wie eine Nadel im Heuhaufen finden zu wollen. Mein Blick blieb an Steven haften.

"Mach was!", befahl ich der Verzweiflung nahe. Der Typ schien die Wunde erst jetzt überhaupt zu bemerken und verzog unangenehm berührt das Gesicht, machte aber keine Anstalten, irgendetwas zu unternehmen. "Na, hätte ich nur gestern nicht voreilig gemeint, dir solls mal genauso gehen wie mir. Offenbar werden meine Wünsche erhört", kommentierte er trocken. Am liebsten hätte ich ihm in diesem Moment eine gelangt. Vor unterdrückter Wut und Angst zitternd fletschte ich meine Zähne: "Sehr witzig du Komiker, jetzt mach schon etwas! Ist das nicht dein Job?!"

Steven runzelte die Stirn: "Mein Job? Herrgott, von dem Kratzer wirst du schon nicht sterben, komm mal wieder runter."

"Schonmal was von einer Blutvergiftung gehört?! Da reicht schon eine winzige Verletzung und falls du es noch nicht wusstest, diese Scheiße ist tödlich!", erkläre ich ihm aufgebracht.

Steven schluckt einmal hart, aber seine taffe Fassade bröckelt nicht. "Und was erwartet du, was ich jetzt tun soll?"

"Keine Ahnung, lass dir was einfallen! Du bist doch der Schutzengel, solltest du für solche Fälle nicht irgendwas tolles im Petto haben?" Mittlerweile war ich vor Angst unnötig laut geworden. Alle Vorsicht wegen der Cops war verflogen, ich sah nur noch Blut und immer mehr Blut aus meiner Hand treten. Notdürftig presste ich mit meiner anderen Handfläche dagegen, um das nicht länger mit ansehen zu müssen, und zuckte sofort zurück, als die Wunde nun auch noch mit Brennen und Ziepen anfing. Scheiße, scheiße, scheiße!!

Steven hatte sich noch immer keinen Zentimeter bewegt. "Tu endlich was!", brüllte ich ihn an. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung, weder Mitleid, noch Freude oder auch nur Pikiertheit darüber, dass ich ihn so anfuhr, aber ich spürte im selben Moment, dass ich bei ihm den dünnen Geduldsfaden zerrissen hatte. Schnaubend drehte er sich um und ging davon, auf die Kreuzung zu, von der wir vorhin gekommen waren. "Komm zurück!", rief ich ihm noch verzweifelt und leicht flehend nach, doch er ließ sich nicht mehr zur Umkehr bewegen. Noch wenige Schritte und er war um die Ecke verschwunden. Ich wollte ihm nach, aber der Schmerz und der Hunger saßen bereits so tief, dass ich nur noch taumeln konnte und beinahe sofort das Gleichgewicht verlor.

Wars das jetzt doch für mich? Von alleine würde ich auf jeden Fall nicht mehr sehr weit kommen, das musste ich geschlagen einsehen. Schon tat es mir leid, Steven so bedrängt und angeschnauzt zu haben. Er war kein Magier und ich konnte vermutlich nicht erwarten, dass er Sachen aus dem Nichts zaubern oder Wunden auf wundersame Weise heilen konnte. Sonst hätte er bestimmt schon viel früher etwas getan und nicht erst abgewartet. Was hatte er jetzt vor? Wenn ich abkratzte, egal ob der Hungertod oder Krankheiten mich zuerst killten, oder mich doch noch die Polizei fand, hätte er doch auch in seiner Mission versagt. Er hatte gesagt, wenn er scheiterte würde er ins Limbo kommen, und sich mit mir abzugeben wäre ihm lieber als das. War er also so fertig mit mir, dass er sein Schicksal jetzt doch hinnahm? Offensichtlich ja.

Ich schloss vor Müdigkeit die Augen, versuchte mich irgendwie von den Schmerzen abzulenken, aber alles was ich tat, machte das Brennen und Ziehen noch schlimmer. Erschöpft sank ich zurück auf den Boden und zählte die Sekunden, die verstrichen. Tja, was jetzt? Ich könnte versuchen, noch zur Themse zu kommen und dort am Ufer die Wunde auszuspülen, aber der Fluss war nicht gerade für seine Sauberkeit bekannt. Außerdem waren dort meist keine Versteckmöglichkeiten und eine Flucht mit Verfolgungsjagd würde ich heute nicht noch einmal schaffen. Ich musste es einsehen, ohne Stevens Hilfe war ich aktuell verloren. Das einzige, was ich tun konnte, war abwarten...

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