Nebeneinander stapften wir den Weg zwischen den Häusern entlang und ich musste aufpassen, nicht die ganze Zeit ausgelassen zu grinsen. Ich war frei! Brauchte mir nie wieder Verfolgungsjagden mit der Polizei leisten und konnte mich hoffentlich bald wieder so uneingeschränkt bewegen wie früher. Zufrieden legte ich meinen Kopf in den Nacken, erinnerte mich plötzlich wieder an etwas von heute Vormittag und wandte mich an Steven. "Was ist eigentlich mit der Wunde passiert?", fragte ich ihn und tippte mir gegen den Hals. "Wann bist du die denn losgeworden?"
Mein Gegenüber zögerte. "Du hattest Recht gehabt", gab er schließlich leise nuschelnd zu, als wäre es ihm furchtbar unangenehm, seinen Irrtum zuzugeben, "Mit deiner Theorie über das Erlösungsdingens. Die ist wirklich von zwei Seiten abhängig. Offenbar hatte ich heute in dem Verhör doch irgendwie Mitleid mit dir gehabt und seitdem ist die Verletzung verschwunden." Nach einer kurzen Pause hängte er an: "Der Polizist hat mir den Vergebungsteil echt erleichtert. Und so ein Arsch nennt sich Hauptmann! Wer weiß, wie viele Leute der schon ohne einen Prozess einfach abgeknallt hat...?"
Mich hatte er jedenfalls nicht gekriegt. Aber... warum eigentlich nicht? Also besser gesagt, warum hatte das Vergebungsritual wieder nur zur Hälfte funktioniert und Steven nicht erlöst? War es bei einem von uns wieder nicht stark genug gewesen? Als ich meinen Schutzengel das fragte, sah ich ihn im Licht einer Straßenlaterne erröten. "Hätte ich dich etwa sterben lassen sollen? Einfach verschwinden ohne Dankeschön oder Gegenleistung? Ich hab dir mit Absicht nicht genug vergeben, damit ich das noch erledigen konnte! Bin ja schließlich kein Unmensch..."
Ich grinste, bereute das aber gleich wieder, als er mich dabei erwischte und sofort grimmig dreinschaute. "Bild dir aber nichts drauf ein! Und dass du da von selbst nicht drauf kommst-!" Den Rest ließ er unausgesprochen und genehmigte sich stattdessen hastig eine Zigarette, um den Moment zu überspielen. Ich entschloss mich, auch nichts weiter darauf zu sagen. Wenn er weiter seine harte Schale präsentieren wollte, konnte er das gerne tun. Aber es war gut zu wissen, dass darunter irgendwo tatsächlich ein weicher, netter Kern saß.
"Und wie geht es jetzt weiter?", erkundigte ich mich irgendwann. Wir hatten den Ortsrand erreicht, aber ich glaubte kaum, dass wir mitten in der Nacht und dann auch noch zu Fuß bis zur nächsten Stadt wandern wollten. Steven zuckte mit den Schultern: "Wenn du meinst, du packst es ab jetzt auch alleine, dann kannst du mich gerne erlösen. Ich bin soweit. Aber wenn du mich noch ein paar Tage erträgst, brauchen wir das auch erst in..." Er überlegte, kramte in der Tasche seines Hoodies und zückte die seltsame Taschenuhr. Sein Blick huschte prüfend im perlmuttfarbenen Licht hin und her und plötzlich wurde er käsig weiß. "Fuck", stieß er ungläubig aus und ich begann, etwas Schlimmes zu ahnen. "Was ist?"
"Wir müssen das jetzt gleich machen! Ich hab heute meine ganze Zeit verbraucht! Mir bleiben nur noch zwei Minuten, bis es zu spät ist!", sagte er erschrocken und raufte sich mit der freien Hand seine lockigen Haare. Diesmal konnte sogar ich die Dringlichkeit der Situation erkennen, als ich einen Blick auf das Ziffernblatt erhaschte: Alle Runen am Rand des Kreises waren entweder erloschen oder blinkten rot und unheilvoll. Fünf der sechs Zeiger lagen perfekt übereinander, auf zwölf Uhr, hätte es sich um eine übliche Uhr gehandelt. Der letzte Zeiger, der größte von allen, stand ihnen gegenüber und tickte unaufhaltsam immer weiter, sein Ziel konnte ich mir denken. Genauso wie das, was dann passieren würde. Sollte Steven bis dahin nicht erlöst werden, hatte er seine Chance auf den Himmel verpasst. Das konnte ich nicht zulassen, erst recht nicht, nachdem der Junge heute seine erste Möglichkeit auf Erlösung weggeworfen hatte, um mir zu helfen!
"Okay, okay! Wir kriegen das hin! Du schaffst das noch!", versprach ich ihm, während sich meine Stimme vor Aufregung überschlug. Aber würden wir es auch wirklich schaffen? Mein Kopf war plötzlich wie leer gefegt und ich wusste nicht, ob ich mich genug auf das Ritual konzentrieren konnte! Was, wenn es nicht klappte? Wenn ich-!
"Dan?" Steven klopfte mir auf die Schulter und schenkte mir ein winzig kleines Lächeln. "Bleib ruhig. Keine Panik. Zwei Minuten ist mehr als genug Zeit dafür... Geht's wieder?" Ich atmete ein paar Mal tief ein und aus und sobald mein Herzschlag sich wieder beruhigt hatte, nickte ich ihm zu: "Geht wieder."
"Kriegst du alles hin, wenn ich nicht mehr da bin?", erkundigte der Junge sich weiter. Nochmal ein Nicken: "Ich werd' mich einfach eine Weile von London fern halten, dann wird das schon!" Jetzt war es wohl Zeit, um Abschied zu nehmen. Der Nervsack würde mir ganz schön fehlen. Und vielleicht wären wir in einem anderen Leben unter anderen Umständen sogar gute Freunde geworden! "Es tut mir leid, dass ich dich getötet habe! Ich hoffe du wirst glücklich im Himmel!"
"Wird schon. Ist bestimmt ziemlich langweilig dort, aber tausendmal besser als ewiges Nichts!" Steven grinste frech, dann wurde er aber wieder ernst und erwiderte mir: "Ich vergebe dir deine Sünde. Und sorry, dass ich dich einen Egoisten genannt hab. Eigentlich bist du ja ganz okay!"
Im nächsten Augenblick brach gleißend helles Licht aus Stevens Taschenuhr hervor. Es umhüllte und blendete uns und ich musste hastig mein Gesicht davon abwenden. Es dauerte mehrere Sekunden, bis ich mich wieder zu blinzeln traute und der Anblick war spektakulär. Anstatt mit dem Strahl gen Himmel aufzusteigen oder wie auch immer ich mir diesen Moment auch vorgestellt hatte, begann Stevens Körper, sich in Lichtpünktchen aufzulösen wie ein dicht gedrängter Schwarm aus Glühwürmchen. Sie wirbelten, drehten sich um die eigene Achse und umeinander und erschufen allmählich einen Strudel, dessen Ausgangspunkt das seltsame Schmuckstück war. Steven hatte es auf den Boden zwischen uns fallen gelassen und winkte mir nochmal lässig, kurz bevor auch noch der Rest von ihm verschwand. Sobald alle Leuchtpunkte von der Uhr absorbiert worden waren, wurde das Licht schwächer, der Deckel schnappte von alleine zu und plötzlich war es wieder stockdunkel. Und Steven war verschwunden. Beinahe so, als hätte es seinen ruhelosen Geist niemals gegeben.
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Sins
FantasyAuf der nicht enden wollenden Verfolgungsjagd vor der Polizei bekommt der streunende Dan Hilfe von unerwarteter Seite! Er erhält einen Schutzengel, der ihm helfen und aus dieser misslichen Lage retten muss. Aber der Schein trügt, denn der rüpelhafte...