Sinne

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S wie Sinne


Sie stand in der Masse, beobachtete die Leute. Sie zogen an ihr vorbei und sie hatte das Gefühl nicht dazu zu gehören. 

Es roch nach Döner, nach Menschen, einige kauten Kaugummi, andere tranken aus to-go-Bechern. 

Es herrschte ein buntes Treiben. Leute die telefonierten, Tüten trugen und darauf warteten, dass die Ampel grün wurde. 

Autos rauschten vorbei. 

Es kam ihr unwirklich vor, unreal. Hatte sie wirklich schon ihr ganzes Leben in dieser Welt gelebt? 

Sie fühlte sich nicht lebendig. Sie war auch seit der letzten Woche nicht mehr in der Uni erschienen, hatte nicht auf die Kontaktaufnahmen von Jenna reagiert. 

Langsam ging sie Richtung Rathaus, von der anderen Straßenseite her hörte man einen Mann Flöte spielen. Dort saß er jede Woche, begleitet von seinem Hund. 

Über den Rathausplatz gelangte sie zum neuen Wall. Auf der Brücke blieb sie kurz stehen, blickte ins Wasser. Ob es wohl jemand bemerken würde? Es ginge sicherlich schnell. Niemand könnte sie aufhalten, doch sie wusste, dass ihr Instinkt es nicht zulassen würde. 

Sie ging weiter die Straße entlang, umgeben von gut gekleideten Leuten und dem Geruch der teuren Läden. Einige drehten sich nach ihr um, andere bemerkten sie nicht einmal. 

Mit ihrer zerrissenen schwarzen Hose, den alten Boots und den ungewaschenen Haaren fiel sie hier fast so sehr auf wie ein bunter Hund. 

An einer Ecke blieb sie stehen. Blickte sich um. Die Leute liefen weiter. Alles lief weiter, und wieder schien es so, als wäre sie falsch auf dieser Erde. Falsch in dieser Welt, falsch in diesem schicken Viertel. Schnell riss sie sich von ihren Gedanken los. Ging zur nächsten Straßenbahn und stieg in die nächste Bahn. 

Sie würde sie nach Hause bringen. Wieder blickte sie sich um. Um sie herum, schickgekleidete Leute, keine Kinder, doch je weiter sie aus der Innenstadt herausfuhr, desto mehr Kinder und "normale" Leute stiegen in die Bahn. In einer Ecke machte es sich ein Mann bequem um, so wie es schien, die Nacht in der Bahn zu verbringen. 

Als sie Zuhause ankam war es dunkel. Sie lief die letzten hundert Meter zu ihrem Block und zog den Schlüssel aus der Jackentasche, ehe sie aufschloss und in das alte Treppenhaus trat. 

Sie war nicht Zuhause angekommen, dass würde sie nie wieder. Sie würde sich immer fremd fühlen. Geboren in der falschen Welt, in einer Welt in der die Armen immer ärmer wurden und die Reichen immer Reicher. In einer Welt, in der die Schere zwischen Arm und Reich zu groß für ihr Herz war. 


Sie setzte sich auf ihre Couch und blickte an die gelbe Wand. Vielleicht mag das Leben beschissen sein. Es geht auf und ab, doch man hat immer eine Wahl. Sie hatte ihre Entscheidung gefällt. Sie wollte Leben. Sie wollte. Doch ob sie konnte war eine andere Frage.



Der nächste Tag versprach ein regnerischer trostloser Tag zu werden. 


Linus' Kopf dröhnte, als er sich in den Vorlesungssaal setzte. Benjamin neben ihm grinste ihn an:" Na, mal wieder zu tief ins Glas geguckt?" - "Du hast ja keine Ahnung.", gab Linus genervt zurück. 

Ben hatte wirklich keine Ahnung. Die Sache mit Milly hatte ihn mitgenommen und sensibilisiert. Obwohl er wusste, dass es unsinnig war, fühlte er sich wie ein Weichei. Er ließ sich von der Lebensgeschichte eines Mädchens mitreißen und betrank sich dann, weil ihr Vater vor wer weiß wie vielen Jahren gestorben war. Er wollte ihr sagen, dass sie an seinem Geisteszustand schuld war, dass sie die böse Königin in seinem Leben verkörperte, doch er konnte nicht. Selbst wenn sie da wäre könnte er es nicht. 

Vielleicht hätte er es gestern Abend geschafft, als er berauscht vom Alkohol durch die Wohnung gewankt war und sie verflucht und gleichzeitig bemitleidet hatte. Doch heute ging es nicht. Zudem hatte er keinen blassen Schimmer wo sie überhaupt steckte. Linus hatte sie die ganze Woche über nicht gesehen, seit dem er aus der Bahn gestiegen war. 

Er hatte sich nicht getraut Jenna zu fragen, ob sie etwas wusste, jedoch wusste er aus ihren Erzählungen, dass Milly nur in den wichtigsten Vorlesungen saß, wobei ihr Stipendium wohl viel mehr verlangte. 

So gern er auch wissen wollte, warum sie nicht da war,er musste die Füße still halten. Es ging ih nichts an, er war kein fester Bestandteil in ihrem Leben, nicht wie dieser Michael. 

Als seine Vorlesung zu Ende war und er endlich in die Freiheit entlassen wurde, wenn auch nur für kurze Zeit, war er froh, dass er bei seinem nächsten Modul eine Maus aufschneiden durfte und seine Ruhe hatte. Sein Kopf dröhnte immer noch und er bereute, dass er in einem schwachen Moment zum Glas gegriffen hatte. 

Er verließ das Foyer um zu dem Gebäude der Mediziner zu gelangen. Die Natur um ihn herum schien heute genauso grau wie der Himmel. 

Als er begann die Maus aufzuschneiden und sein Skalpell das weiche Fleisch teilte konnte er nicht anders, als weiter über Milly nachzudenken. Jedoch schnitt das Skalpell schneller als er reagieren konnte nicht mehr das Fleisch der Maus , sondern das seines Zeigefingers. 

Fluchend hielt er sich den blutenden Finger und besorgte sich ein Pflaster. Und obwohl er es nicht wollte glitten seine Gedanken zu Milly zurück. Was sie wohl gerade machte?

Nach einer qualvollen Stunde, welche sich wie eine Ewigkeit anfühlt hatte musste er wieder zu den Vorlesungsräumen. Seine Füße trugen ihn über das harte Kopfsteinpflaster und seine Nase vernahm den Geruch von Regnen. Kurz blieb er stehen. Millys Haare hatten die Farbe von Regen. 

Über ihre Haarfarbe nachdenken ging Linus weiter und erreichte nach geschlagenen fünf Minuten das Universitätsgebäude. Schnell huschte er durch die Tür um den vom Himmel fallenden Regentropfen zu entfliehen. 

Gelangweilt blickte er sich in der Menge um. Es war alles wie sonst auch immer. Die Leute redeten, lachten, hetzten oder telefonierten. Sie aßen und kamen alle mit ihrem Leben klar, sie alle hatten das nötige Geld um sich diese Universität zu leisten. 

Er ließ seinen Blick durch die Menge schweifen, erblickte viele Frisuren und Haarfarben, doch eine stach besonders aus der Masse heraus. 

Es waren giftgrüne Haare, zu eine Zopf gebunden. Die Besitzerin der Haare stand an einem der Stehtische und unterhielt sich mit einem Jungen in Linus' Alter. Er brauchte kein zweites Mal hinsehen um zu erkennen, dass es sich bei diesem Jungen um Aaron Haase handelte. Aaron belegte seit drei Semestern Psychologie und schien sich sehr gut mit der sonst so kühlen Milly zu verstehen. Sie lachte, als er ihr etwas wild gestikulierend erklärte. 

In Linus schäumte Wut auf und noch etwas anderes, was er aus seinen Kindertagen kannte, wenn seine Schwester einen Bonbon bekam, weil sie so süß war, und er aber keinen bekam. Eifersucht. Er wusste nicht warum, aber er wusste, dass er eine gewisse Verbundenheit zwischen Milly und ihm spürte. Linus wusste ebenfalls, dass Milly es auch spürte, so wie seinen Blick gerade. 

Sie sah erschrocken, ja, fast ängstlich aus, als sie ihn erblickte. Schnell drehte sie sich wieder zu Aaron und schien sich zu verabschieden. Sie winkte Aaron im gehen und verschwand dann in der Masse.

Linus wollte ihr hinterher, doch obwohl er sie mit ihrer Haarfarbe sofort hätte erblicken müssen, fand er sie zwischen all den menschen nicht wieder. Fand sie nicht in einer Masse von der sie sich in jeglicher Hinsicht abhob.

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