11. Mein Leid ist ausgesprochen

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11. Mein Leid ist ausgesprochen

~Avery

"Morgen Avery. Schön geschlafen?", durch Silvans fröhliche Stimmung werde ich geweckt. Verschlafen richte ich mich in den ungemütlichen Sessel auf und fahre mir durch die Haare.

"Frühstück steht da", eins muss man ihn lassen. Solange er mich alleine gefangen hält, kümmert er sich ganz gut um mich. Den Umständen entsprechend. Wenn da nicht die Momente wären, in denen er mir Todesangst macht, würde man fast meinen er sei ein ganz normaler Typ. Zugegebenermaßen mit ein paar psychischen Fehlern.

Besser gelaunt als gestern, fange ich an das Essen zu verschlingen. Es ist nur ein bisschen Brot, Butter und ein Glas Wasser. Trotzdem ist es besser als gar nichts.

"Weist du Avery ich kann dich verstehen. Also ich kann verstehen, dass du Angst vor mir hast. Ich selber hätte schließlich auch Angst vor mir. Aber ist das nicht das, was mich so genial macht? Du würdest mich anlügen wenn du mir jetzt weis machen möchtest, dass ich nicht genial bin." Silvan hört kurz auf zu reden und sieht mich nach Bestätigung suchend an. Ja. So viel Angst wie er mir macht, kann er nur genial sein. Normalerweise lasse ich mich nicht so schnell einschüchtern. Vor allem bin ich eher jemand der Ruhe bewahrt und nicht so schnell aufgibt. Ich nicke.

"Siehst du? Allein, dass du eigentlich nie mit mir redest sollte mir das ja zeigen. Aber hast du dich bisher jemals gefragt, warum ich so bin wie ich bin? Was frag ich das überhaupt. Klar hast du dich das gefragt. Schließlich mach ich dir ja Angst. Nun ich habe beschlossen es dir zu erzählen."

Ich sehe ihn ungläubig an. Wieso will er mir das erzählen? Das hat doch bestimmt einen Haken. Nicht weiter auf meinen Verdacht eingehend, höre ich Silvan weiter zu.

"Weist du, mein Leben war noch nie mit Liebe überfüllt. Um genau zu sein war ich sehr einsam. Mein Vater hat meine Mutter kurz nach meiner Geburt verlassen. Mit dieser typischen 'Ich geh mal kurz Zigaretten holen!' Ausrede. Daraufhin ist meine Mutter Alkoholikerin und Drogenabhängige geworden. Mein Leben, meine Schule und sonst so hat sie nen Scheißdreck interessiert. Sprich ich habe schon früh alleine zu überleben gelernt. Immer wieder habe ich versucht meine Mutter zu beeindrucken. Irgendwie ihre Aufmerksamkeit zu kriegen, wenn du verstehst. Anfangs noch mit Bildern und guten Noten aber als das nichts gebracht hat, fing ich an andere Kinder zu mobben, prügeln, auszurauben und sie zu bedrohen. Sagen wir etwas aufsehen hat das dann bei meiner Mutter schon erregt. Leider im negativen Sinne. Täglich hat sie mich verprügelt. Angeschrien das volle Programm halt. Kurz gesagt, meine Kindheit war scheiße und ich wollte Rache. Jeder sollte das Gleiche spüren wie ich. Und es konnte mir nicht besser gelingen oder? Einmal schon habe ich ein unschuldiges Mädchen umgebracht. Du kannst dir gar nicht vorstellen was das für ein tolles Gefühl ist. Die Menschen um sie herum trauern und sie selbst leiden zu sehen. Alles in mir kribbelt danach es ein weiteres Mal zu machen."

Erschrocken ziehe ich bei seinen Worten Luft ein. Erzählt er mir all das nur, um mich anschließend umzubringen? Ich weis nicht wie er das bei den Mädchen angestellt hat. Aber ich kann mir vorstellen, wie abartig er das getan haben muss. Wahrscheinlich erzählt er mir davon, damit ich mir schon mal vorstellen kann was gleich folgt?

Er lacht leicht belustigt.

"Keine Sorge Kleine. Dir werde ich erstmal nichts tun. Ich hätte dazu die letzten drei Jahre schon genug Zeit gehabt. Aber er hindert mich daran. Bevor ich jemand anderen umbringen kann will ich zuerst ihn. Zayn. Davor werde ich dir nichts tun."

Zayn. Er darf ihn nicht umbringen. Ich weis nicht wieso, aber Zayn ist mir verdammt wichtig geworden. Wenn er tot wäre... Könnte ich dann noch normal weiterleben? In dieser kurzen Zeit schon sind wir zu richtig guten Freunden geworden. Zumindest fühlt es sich für mich so an. Was er darüber denkt, kann ich mir nicht mal ansatzweise vorstellen. Komisch wenn man bedenkt, dass zu einer guten Freundschaft dazugehört, dass man sich blind versteht. Aber wie soll man aus jemanden schlau werden, wenn er alles über sich versteckt? Niemanden an sich heran lässt. Das alleine sollte schon ein Punkt sein, über meine Aussage noch einmal ganz genau nachzudenken. Doch das tue ich nicht, denn da ist etwas, was für eine Freundschaft noch viel wichtiger ist. Etwas, das ich nicht jeden schenken mag. Vertrauen. Schon immer war es schwer für mich, jemanden zu finden, den ich voll und ganz vertrauen kann. Den ich mein Leben anvertrauen würde. Zu diesen Menschen gehört Zayn. Mein Vertrauen zu ihm ist so groß, das ich das nötige Verständnis aufbringen kann um zu sagen, dass wir befreundet sind. Verständnis darüber, dass seine Vergangenheit vielleicht nicht die Schönste war und er deshalb verlernt hat zu vertrauen. Ich würde auch nicht gerne meine Vergangenheit wie ein offenes Buch vor mir liegen haben. Wenn sie denn schlimm wäre. Das ist sie aber nicht. Vielleicht denkt er ja auch, dass ihn eh niemand versteht. So gerne ich es nämlich möchte, könnte ich es nicht. Weil mir nie etwas dergleichen passiert ist, was ihm widerfahren ist. Wobei ich ja noch nichtmal weis, was er überhaupt erlebt hat. Aber ich weis so viel darüber um sagen zu können, dass es schrecklich war. Lange Rede kurzer Sinn. Auch wenn ich ihn nicht verstehen kann, möchte ihn zumindest zeigen, welche Unterstützung ich ihn geben kann. Dass ich all mein Verständnis für ihn opfern würde. Nur damit er wieder lernt zu vertrauen. Vielleicht bin ich sogar diese Person. Der, der er sich anvertraut. Ich kann es mir nur wünschen.

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