Wahre Freunde

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Es klingelte. Sofort rief Ai: „Ich mach schon auf!" und lief zur Eingangstür. Sie öffnete und erstarrte mitten in der Bewegung. Das war jemand, den sie nicht erwartet hatte.
„Hallo, Ai. Kann ich bitte reinkommen?", fragte Ran schüchtern. Ai nickte etwas verdattert und fügte hinzu: „Ja, natürlich.  Komm nur rein, Ran."
Sie ließ die Tür hinter Ran geräuschvoll ins Schloss fallen und blieb wie angewurzelt stehen. Sie wusste nicht, was sie von diesem überraschenden Besuch halten sollte. „Möchtest du etwas trinken?" Ran drehte sich zu Ai um und nickte dankend.
Wenig später saßen sie auf dem gemütlichen Sofa im Wohnbereich und tranken schweigend ihren Tee.
„Weshalb ...?" Ran nickte. Sie schien in Gedanken versunken gewesen zu sein. „Entschuldige, Ai. Ich war etwas ... Naja, auch egal", sagte sie nervös und stellte ihre Teetasse schnell auf dem Couchtisch ab. Sie nestelte am Zipfel ihres T-Shirts herum, bis sich Ai laut räusperte und sie abermals aus ihren Gedanken aufschreckte. Ran saß zwar vor Ai, doch geistig schien sie sehr weit entfernt zu sein. Irgendetwas machte ihr Sorgen.
„Ich, also ich ...", begann sie stockend und sah unsicher zu Ai auf. Diese erwiderte einen ermutigenden Blick. „Du kennst doch Kaito, oder?", platzte es endlich aus Ran heraus. Sie atmete laut ein.
Ai stutzte. Sie konnte damit nichts anfangen. Sie entgegnete: „Ja, klar. Du meinst doch Kaito, der nebenan bei Shinichi wohnt, oder?" Ran nickte.
„Ja", bestätigte Ai, „den Kaito kenne ich!" Ran schien erleichtert. Sie nahm wieder ihre Tasse in die Hand und nippte vorsichtig an dem heißen Tee.
„Es ist nämlich so ...", begann sie zu erzählen und schilderte Ai Shinichis Wohnung und wie sie ihn gestern aufgefunden hatte. Ai war nicht minder geschockt wie Ran, als sie davon hörte. Sie war vollkommen baff, dass sie nichts mitbekommen hatte.
„Und deshalb suche ich Kaito. Ich glaube, dass Shinichi wegen ihm so deprimiert ist", schloss Ran und sah Ai erwartungsvoll an. Diese trank gerade einen Schluck Tee. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf, dann sagte sie: „Ich weiß leider auch nicht, wo sich Kaito nun aufhält." Ai hielt inne und überlegte kurz.
„Aber ich habe seine Handynummer!" Rans Gesicht hellte sich augenblicklich auf. Doch Ai bremste ihre Freude gleich aus. „Bitte sage Shinichi nicht, dass ich sie habe. Er rennt mir sonst noch die Türe ein und lässt mir keine ruhige Minute mehr!"
Ran nickte verständnisvoll. „Gerade ist er gar nicht in Tokio. Ich habe ihn zu Heiji nach Osaka geschickt." Die blonde Frau atmete erleichtert aus. „Aber woher hast du sie, Ai?", fragte sie neugierig. „Kaito hat sie mir mal gegeben. Naja, eigentlich war ich clever genug sie mir von ihm geben zu lassen. Als Shinichi seinen schweren Unfall und diese Amnesie hatte, konnten wir uns so besser absprechen und uns um ihn kümmern." Ai zwinkerte verschmitzt. „Eine Nummer für den Notfall eben!"
Ran lächelte schwach über diesen Scherz. Wusste Ai überhaupt wie Shinichi und Kaito zueinander standen? Sie machte nicht wirklich den Eindruck. Aber andererseits war sie eine kluge Frau. Sie hatte das bestimmt schon früher herausgefunden als Ran.
Einen Anruf später wurde Rans Freude, Kaito möglichst bald zu finden, wieder abgebremst. Es ging nur die Mailbox ran. Ai hinterließ zwar eine Nachricht mit der Bitte, Kaito möge sich so schnell wie möglich melden, aber trotzdem verstrich die Zeit bis zum Nachmittag, ehe Ais Handy klingelte.
In der Zwischenzeit war auch Professor Agasa zu den zwei Frauen gestoßen, hatte mit ihnen geplaudert, die schlechten Neuigkeiten erfahren und ihnen eine Kleinigkeit zu essen zubereitet.
„Hallo, hier Ai Haibara", meldete sich Ai. Das Handy dicht ans Ohr gepresst, hörte sie aufmerksam zu. Ran schluckte. Sie merkte nicht, dass sie vor Neugierde sogar den Hals lang machte und mit dem Kopf über dem Couchtisch hing, nur um vielleicht etwas verstehen zu können.
„Ja, eigentlich wollte Ran mit dir sprechen." Eine lange Pause folgte. „Ach, Kaito, bitte, es geht doch um Shinichi. Und nein, ich weiß nicht was zwischen euch beiden vorgefallen ist. Aber darum geht's doch auch nicht! Bitte, Kaito. Höre Ran doch einfach mal zu." Wieder schwieg Ai. Dann reichte sie ihr wortlos das Handy über den Tisch.
Ran richtete sich auf, atmete leise ein und schloss kurz die Augen. Egal wie dieses Gespräch nun verlaufen würde, sie musste an Shinichi denken. Sie durfte sich nicht von irgendwelchen irrsinnigen Gefühlen ablenken lassen. Sie lächelte unvermittelt. Es war schon verrückt mit dem Freund ihres besten Freundes zu telefonieren.
Mit neuem Mut nahm sie das Handy entgegen.
„Hallo?", meldete sie sich etwas ratlos. Sie vernahm einen tiefen Seufzer und dann ein brummiges „Hallo". Ran schluckte. Bevor sich aber das komische Gefühl in ihrer Magengegend weiter ausbreiten konnte, begann sie zu erzählen.
Sie ließ kein Detail aus, berichtete wie Shinichi ausgesehen hatte, wie er zuerst beharrlich geschwiegen hatte, um dann in Tränen auszubrechen. Sie erzählte Kaito auch, dass er nun in Osaka bei Heiji war und er sich keine Sorgen zu machen brauchte.
Sie bat ihn, so schnell wie möglich wieder zurückzukommen.
„Shinichi vermisst dich, Kaito", schloss sie leise und, wie sie inständig hoffte, nicht allzu mitleidig.
Schweigen. Nun wurde es Ran erst bewusst. Während des ganzen Gesprächs hatte sie geredet, nur um ihm keine Chance zu geben sie zu unterbrechen.
„Ich kann nicht zurückkommen." War die einzige Antwort. „Zumindest nicht sofort", räumte Kaito schwach ein. „Danke". Er schluckte. „Danke, dass du mir davon erzählt hast."
Er legte auf. Ran presste das Handy weiterhin an ihr Ohr, während ein nerviger Ton ertönte. Sie konnte es nicht fassen. Hatte sie etwas vergessen? Hatte sie nicht oft genug betont, wie schlecht es Shinichi ohne Kaito ging? Hatte sie nicht gesagt, dass Shinichi ihn vermisste?
Ai und der Professor sahen sie noch immer erwartungsvoll an, bis Ran schließlich resigniert den Kopf schüttelte. Sie verstand Kaito einfach nicht.

Himmelblau und EisblauWo Geschichten leben. Entdecke jetzt