Kapitel 5

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Und jetzt steh ich hier. Am Rand eines Hochhausdaches und überlege ob ich wirklich springen soll.Das ganze hätte ganz anders enden können. Wäre ich einfach mutiger gewesen. Mutiger, meine Gefühle zu zeigen. Mutiger, meine Persönlichkeit zu zeigen. Mutiger, anderen meine Gefühle zu gestehen. Mutiger, meine Träume wahr werden zu lassen. Mutiger, etwas zu ändern.

Aber nein, ich muss ja so schwach sein. Ich werde mich nie trauen, ihm zu sagen, was ich fühle. Ich werde nie wissen, ob er etwas für mich empfindet. Und genau deshalb werde ich jetzt springen. Entweder ich bringe mich jetzt um oder die Unwissenheit bringt mich um. Die Unwissenheit über seine Gefühle. Dieser eine Sprung. Er würde mich von allem erlösen. Von den Qualen. Von meinem Leben. Von allem.

Ich frage mich, wie lange ich eigentlich schon hier stehe. Langsam wird es auch kalt und die Sonne geht unter. Was für ein schöner Anblick. Ich hole nochmal meine Kamera aus der Tasche und schieße ein letztes Foto. Alle diese Fotos auf der Speicherkarte der Kamera werde ich mit in den Tod nehmen. Niemand wird sie je zu Gesicht bekommen. Es soll sie auch nie jemand sehen.

Ich gehe nochmal alles durch, was ich vor diesem Moment hier gemacht habe. Den Abschiedsbrief auf die Küchenzeile zu Hause gelegt. Meine Eltern und mein Bruder würden ihn frühestens übermorgen sehen, da sie noch auf ihrer Welness-Reise sind. Wenigstens die drei können jetzt entspannen. Und auch in Zukunft werden sie weniger Lasten durch mich haben. 

Danach bin ich durch die Straßen meiner Heimatstadt Wismar gelaufen. Hierher. Zu meinem Lieblingsort. Dem Ort, an dem ich mich frei fühlen kann. Auf dem Weg hierher bin ich an meiner Schule vorbeigelaufen. Ich habe das letzte Mal das kaputte Fenster des Musikraumes an der alten Fassade betrachtet. Und ein letztes Mal den einzigen geschmückten Raum der Schule gesehen- den Kunstraum. Mit den Basteleien der Schüler, die je nach Jahreszeit in die Fenster gehangen wurden. Da hing sogar meine letzte Kunstarbeit. Wir sollten eine Art Collage zum Thema 'Wald' machen. Ich habe Bilder von Coladosen, Wodkaflaschen und sonstigem Müll aufgeklebt und darüber Blätter gedruckt, also mit Farbe Blätter angemalt und dann auf das Papier gedrückt. Man sieht durch die gedruckten Blätter noch den Müll.  Die meisten meiner Mitschüler haben sich nur darüber lustig gemacht und meinten:" Das bist genau du. Die Öko-Tante von nebenan" Innerlich zerbrach an den Worten, denn eigentlich wollte ich nur meine Gedanken zum Thema ausdrücken. Äußerlich lachte ich aber mit und meinte: "Mir ist halt nichts anderes eingefallen". Unsere Kunstlehrerin fand das Bild anscheinend ziemlich gut, sonst hätte es nicht dort gehangen. Aber wir hatten die Arbeiten noch nicht ausgewertet. Ich war ein wenig stolz auf mich, da endlich mal jemandaus meiner Schule, in dem Fall meine Kunstlehrerin, etwas von mir würdigte. Aber ich ging schnell weiter, damit ich nicht zu tief in Gedanken versinken konnte. Anschießend kam ich an dem Haus vorbei, in dem er wohnte. Es war genauso schön wie er. Durch ein Fenster konnte ich in sein Zimmer sehen. Es war sehr schön eingerichtet. Im Pinterest-Stil. Genau so wollte ich immer mein Zimmer gestalten. Und er hatte es so eingerichtet. Aber ich hatte es nicht geschafft. Zuletzt kam ich an dem Fotoladen vorbei, in dem ich alles, was ich zum fotografieren brauchte, gekauft hatte. Ich ging ein letztes Mal in den Laden und unterhielt mich mit Nathan, dem Ladenbesitzer. Wir waren per du, da ich sozusagen Stammkunde in dem Laden war. Wir unterhielten uns wie eigentlich immer über die neuesten Kameras und Objektive. Wir spekulierten, welcher Kameraanbieter wohl welche neue Innovation auf den Markt brachte. Und über unsere letzte Fototour durch Wismar. Wir hatten Motive für seine neue Fotoaustellung gesucht. Das Thema lautete: Wismar, mit Leib und Seele. Nathan war so etwas wie ein Freund für mich geworden, obwohl er schon 38 war. Nachdem ich mich von Nathan verabschiedet hatte, ging ich zum Hochhaus.

Diesen Ort hier hatte ich mich Nathan entdeckt, als wir auf unserer ersten Fototour waren. Damals war es noch komisch mit einem 38-jährigen Mann durch Wismar zu laufen und Fotos zu machen, aber irgendwann wurde eszu etwas Tollem, denn Nathan hatte den selben Stil wie ich. Er liebte auch Natur- und Makrofotografien. Leider hatte Nathan nur sehr selten Zeit, da er viel arbeiten musste, denn als Fotograf und Ladenbesitzer verdiente er nicht viel. Aber er hatte mir alles beigebracht, was mit Fotografieren zu tun hatte.

Und jetzt steh ich hier.

Ich höre hinter mir das Knirschen von Kies. Mist. Da ist jemand. Ich sehe mich am besten nicht um sondern nehme einfach einen Schritt Anlauf und... springe. Hinter mir schreit jemand. Aber es ist mir egal. Dieses Gefühl. Es ist so befreiend. Endlich bin ich frei. Das sind meine letzten Sekunden. Ich realisiere,dass das hier mein glücklichster Moment seit Jahren ist. Neben den Fototouren. Schon traurig, wie sich mein Leben so entwickeln konnte. Ich weiß nicht wie lange ich schon fliege ,aber es kommt mir vor wie in Zeitlupe. Ein wundervolles Gefühl. Freiheit.

Das nächste, was ich spüre, ist ein dumpfer Aufprall. Danach nichts mehr. Ich sehe mein ganzes Leben wie in Zeitraffer. Und dann ist da ein Licht. Hell und gleißend. Und so schön. Ich gehe in Richtung des Lichtes und merke, dass sich so der Tod anfühlt.

Soll ich?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt