Kapitel 9

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"Ich muss dann auch leider schon los. Sorry, aber ich hab noch ein Shooting. Ich kann die Frau echt nicht leiden, die ich fotografieren soll. Die ist so ein totales Klischee-Model. Superdünn und total arrogant und eingebildet. Aber naja was soll ich machen. Ist halt mein Job. Also dann, bis morgen und vergiss nicht: Ich werde dich so lange nerven, bis du so genervt bist und wieder aufwachst.", lacht Nathan noch zum Abschied. Doch bevor Nathan gehen kann, öffnet sich die noch einmal. 

Zum Vorschein kommt... Trommelwirbel ... Justus. Irgendwie hatte ich gehofft, das Leonard kommt. Aber was habe ich erwartet. Er wird mich nie lieben. Ich werde ihm ewig egal sein.

Bevor ich aber weiterdenken kann, fängt Justus an zu sprechen. "Oh, ähh... Entschuldigung. Ich wollte wirklich nicht stören. Ich dachte wirklich nicht, dass jemand in ihrem Zimmer ist. Ich gehe auch sofort. Ich will wirklich nicht stören, wenn Sie mit Tessa reden wollen. Tut mir echt Leid. Also, sagen Sie mir einfach Bescheid, wenn Sie wieder gehen. Also, ich will Ihnen damit jetzt nicht sagen, dass Sie gleich wieder gehen sollen oder so.  Sie können ruhig weiter hierbleiben, ich will wirklich nicht stören. Tut mir echt Leid, dass ich jetzt so einfach reingeplatzt bin. Nächstes Mal klopfe ich an. Also nochmal. Sorry, ich wollte echt nicht stören. Ich geh dann auch mal wieder, ich will ja nicht weiter stören", erklärt Justus total verlegen. Das ist super cute, wie er einfach anfängt so viel zu reden und das in einem Tempo... da kann Eminem einpacken. "Hey, ist doch kein Problem", erwidert Nathan amüsiert, " Ich wollte eh gerade gehen und hab nichts wichtiges hier drin gemacht. Oder irgendwas, was keiner wissen sollte. Also alles cool. Und bevor du fragst, nein, ich bin nicht Tessas Vater nur ein guter Freund. Ich bin übrigens Nathan." Er hält Justus seine Hand hin. Dieser lächelt verlegen und erwidert den Händedruck. "Ich bin Justus. Und nochmal sorry. Wenn mir irgendetwas peinlich ist fange ich an, dummes Zeug von mir zu geben und dann kann ich nicht mehr aufhören zu reden.", lacht Justus. Nathan steigt in sein Lachen mit ein. Also stehen die beiden jetzt in meinem Krankenhauszimmer und lachen. Ein bisschen weird würde ich mal sagen, aber viel komischer als einen über 30-jährigen guten Freund mit 14 Jahren zu haben, ist das auch wieder nicht. Gut, noch komischer können auch nur sehr wenige Situationen sein. Aber egal, Nathan und ich verstehen uns einfach. Das scheint bei Nathan und Justus auch so zu sein, die beiden stehen immer noch lachend im Zimmer. Ok. So langsam wird das echt creepy. Immer noch lachend beginnt Nathan endlich wieder mit reden:" Also. Ich muss dann auch los. Ich hab noch einen wichtigen Termin. War nett dich kennenzulernen Justus. Du scheinst mir sympathisch" Und damit verlässt er auch schon den Raum. Justus ruft ihm noch ein "Tschüss" hinterher, aber dann ist Nathan  auch schon verschwunden.
Jetzt steht nur noch Justus im Zimmer. Er beginnt zu reden:" Hey Tessa, ich hab dir ja gesagt, dass ich heute wiederkomme. Und wie ich sehe, bist du ja auch nicht ganz allein hier. Nathan scheint sehr nett zu sein, auch wenn ich nie gedacht hatte, dass eine 14-jährige einen ca. 30-jährigen Kumpel hat. Aber das ist ja eigentlich auch egal. Also, was ich dir eigentlich erzählen wollte: Ich hab mich endlich getraut jemandem von meiner Sexualität zu erzählen. Naja gut, wenn man das erzählen nennen kann. Ich habe es meinst verstorben Oma erzählt. Ich hoffe du verstehst, was ich meine. Ich gehe regelmäßig zu ihrem Grab, um mit ihr zu "reden", also ich erzähle einfach drauf los, so wie bei dir. Nur dass ich bei dir noch mehr das Gefühl habe, jemand hört mir wirklich zu. Und ich habe meiner Oma auch bis gestern noch nie erzählt, dass ich schwul bin, weil sie etwas, ich nenne es mal, konservativ eingestellt war. Auf jeden Fall war das für mich schon ein Schritt in die richtige Richtung, glaub ich mal. Obwohl es eher ein "Babystep" war, war es ein Schritt. Achso, ich glaub du weißt nicht, was ich mit "Babystep"meine. Also das ist sozusagen ein kleiner Schritt Richtung Ziel. Der Begriff ist von einer Youtuberin. Die heißt Jodie Calussi, ich weiß nicht, ob du sie vielleicht kennst. Sie macht Vlogs.
Ich muss dann auch wieder los, meine Arbeit wartet. Also dann, bis demnächst! Und achso, bevor ich es vergesse, ich habe den Arzt nach deinem Zustand gefragt. Erst wollte er mir nichts darüber erzählen, aber letztendlich habe ich es geschafft, dass er mir ein bisschen was sagt. Also, er meinte dein Zustand sei zwar momentan sehr schlecht und wahrscheinlich wirst du, wenn du aufwachst, einige Teile seines Körpers nicht mehr richtig nutzen können, aber wenn du kämpfst, bestehe eine 10 prozentige Chance, dass du aufwachst. Ich dachte mir, du hast ein Recht darauf zu erfahren, in welchem Zustand du dich befindest. Ich hoffe aber sehr, dass du kämpfst. Den ich denke, du könntest etwas ändern. Ich weiß auch nicht genau warum ich das denke, aber du schreibst Kite der Typ dafür zu sein, sehr tolerant und hilfsbereit zu agieren. Naja... Ich muss dann auch leider los. Also dann bis morgen! Und bitte kämpf um dein Leben, niemand hat es in deinem Alter verdient zu sterben."
Und da ist auch Justus wieder weg und ich bin mal wieder allein mit meinen Gedanken. 
Aber ich hab ja genug, worüber ich nachdenken kann. Erstens, Babysteps. Dieser Begriff ist mir nur zu bekannt. Ich schaue auch mit Vorliebe. Ich bin froh, dass ich jetzt wenigstens jemanden gefunden, der ihre Videos auch mag. Und ich muss sagen, es ist schon mal ein Schritt in die richtige Richtung, dass er seiner verstorbenen Oma erzählt hat, dass er schwul ist. Ich hoffe irgendwann wird er es sich trauen und ich hoffe ihm wird es dann egal sein, was irgendwelche homophoben Idioten von seiner Sexualität denken. Ich bin der Meinung, jeder sollte lieben können, wen er lieben will. Solange alle involvierten mit der Situation einverstanden sind, gibt es für mich keinen Grund, etwas zu verbieten. Ich verstehe einfach nicht, wieso es so intolerante Leute gibt, die nur das glauben, was sie selbst kennen. Nur weil sie Menschen selbst nicht homosexuell oder ähnliches sind, heißt das keinesfalls dass es unnatürlich ist. Man kann auch Dinge akzeptieren, die man nicht versteht. Solange man niemanden schadet, kann man tun, was man will, denke ich. Aber Naja. Es gibt immer Leute, die das nicht akzeptieren wollen. Es ist ja nicht mal schlimm, sowas nicht zu akzeptieren, aber man sollte wenigstens darauf achten, keinen direkt anzugreifen oder zu verletzen.
Aber leider gibt es zu viele Idioten auf dieser Welt.
Das ist einer der Gründe, warum ich gesprungen bin. Ich wollte weg von dieser grausamen Welt, auf der Menschen dafür verachtet werden, sich für andere einzusetzen. Auf der Menschen ausgebeutet werden, obwohl sie täglich ihr Leben aufs Spiel setzen, um ihre Familie irgendwie zu ernähren. Auf der Menschen dafür sorgen, dass sich andere wertlos und nutzlos fühlen.
Von dieser Welt wollte ich fliehen. Ob es die richtige Entscheidung war, weiß ich nicht. Auf jeden Fall war es für mich besser, als nur zu leiden. Vielleicht hätte sich noch etwas an meiner Situation ändern können. Vielleicht hätte ich die Kraft und den Mut gefunden, das auszusprechen, wofür ich stehen möchte. Vielleicht hätte ich es geschafft wieder ich zu sein. Vielleicht hätte ich etwas ändern können. Vielleicht hätte ich jemandem helfen können. Aber das werde ich wohl nie mehr erfahren.
Justus letzten Worte bevor er gegangen ist, haben bei auch irgendwas ausgelöst. Das Gefühl, dass es sich lohnt zu kämpfen, auch wenn man denkt, man hätte schon längst verloren.

Soll ich?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt