6.

8.9K 558 114
                                    

,,Dada", Merle zeigt amüsiert aus dem Fenster auf die Schneelandschaft die sich rechts und links an unseren Seiten entlang streckt. Die Bäume sind mit Schnee bestäubt und die Sonne glitzert darauf.

Ich lehne mich zu ihr und zeige auf die schneebedeckten Gräser. ,,Ja, Merle, das ist Schnee, das weiße Pulver mit dem wir deinen Schneemann gestern gebaut haben", sie kichert und klatscht in die Hände.

,,Schokolade?", Mum lehnt sich zu mir nach hinten und hält mir eine Tafel Schokolade vor die Nase.

,,Da fragst du noch?", ich breche mir ein Stück Zartbitter ab und stecke es mir genüsslich in den Mund. ,,Mhh", ich schließe genießerisch die Augen als sich der süße und bittere Geschmack in meinem Mund ausbreitet.

,,Wir sollten gleich da sein", sagt Dad. ,,Wenn diese Dame endlich wüsste wo sie uns hinschicken soll", brummt er genervt und drückt irgendwelche Tasten auf dem Navi.

Dad kommt noch nicht besonders gut mit der neuesten Technik klar, er verlässt sich lieber auf Kompass und Landkarte.

,,Gerd jetzt lass das Navigationsgerät in Ruhe", Mama klatscht ihm auf die Hände und drückt wieder irgendwelche Tasten. ,,Du hast alles verstellt", klagt sie.

,,Nach vierhundert Metern links abbiegen."

Merle hört gespannt der Computerstimme zu während sie auf die Fensterscheibe tippt und versucht Schneeflocken einzufangen.

,,Jetzt rechts abbiegen"

Dad blinkt und fährt in die Straße rechts von uns. Wir fahren einen Kiesweg entlang bis wir vor einem riesen Hotel stehen. Es ist aus Holz und hat neben dem Schild zwei Sterne. Schneetraum blinkt in hellen Lämpchen über dem Eingang.

,,Sie haben ihr Ziel erreicht."

Dad macht das Navi aus und massiert sich die Schläfen. Nachdem er sich kurz den Nacken massiert hat fährt er auf den Parkplatz zu und parkt in einer freien Stelle.

Wir steigen aus. Eine weihnachtliche Stimmung umhüllt mich. An den Fenstern des Hotels hängen Lichterketten, die kleinen Plastikbäumchen vor der Eingangstür leuchten auf und tragen eine rote Schleife. Es liegt noch viel mehr Schnee als in Friedrichshafen, aber was habe ich anderes erwartet, wir sind schließlich in einem Skigebiet?

,,Emma hilfst du uns bitte", Papa zerrt einen großen Koffer aus dem Auto. Meinen großen Koffer.

,,Klar, warte", ich nehme ihn ihm ab und stelle mich neben Merle die auf dem Boden sitzt und die Hände aufhält um die Schneeflocken einfzufangen. Dieses Mädchen liebt eindeutig den Winter.

,,Na los lasst uns schon einmal einchecken", Mama hackt sich bei mir unter und nimmt Merle bei der Hand. ,,Gerd bringst du die Koffer an die Rezeption? Ich glaube ein Page bringt sie dann in unser Zimmer."

,,Ja doch!", ruft er, wenig enthusiastisch. Man hört ein lautes Plumpsen als wäre etwas zu Boden gegangen. Ein Blick über die Schulter sagt mir, dass Dad die Koffer runter gefallen sind und er kräftig am Fluchen ist.

Die Eingangshalle ist ebenfalls mit einem großen Weihnachtsbaum geschmückt. Merles Augen werden groß als sie vorsichtig eine Kugel berührt, doch als diese sich bewegt zieht sie schnell die Hand weg. Ich grinse, weil es einfach nur zu goldig aussieht wie sie in ihrem dicken Schneeanzug staunt und dabei nicht mehr aufhören kann zu strahlen.

...

Unser Zimmer ist groß, es ist riesig und einfach nur traumhaft. Nicht zu schäbig und nicht zu luxeriös, genau in der Mitte.

Paps und Merle machen ein kleines Nickerchen, derweil Mama und ich in den Raum gehen in dem anscheinend ein Kachelofen brennt und Kekse stehen.

Als wir ihn betreten strömt mir der Duft von Spekulatius und Tannenzweigen entgegen. Ausschließlich Frauen sind hier aber auch Männer sitzen auf dem Sofa und unterhalten sich. Einige sitzen an einem Tisch und spielen Karten, andere am Kamin oder lesen ein Buch. Ich wende mich von Mama ab und gehe zu dem Bücherregal welches in der hinteren Ecke steht. Mein Blick schweift einmal darüber bis ich einfach eins herausziehe und mir die Inhaltsangabe hinten drauf lese. Es geht um irgendeine Fantasy Story in der ein Mädchen völlig ahnungslos ist und denkt dass sie total normal ist. ( Normal, haha, dass ich nicht lache, wer ist heute schon noch normal?) Bis sie einen Jungen kennenlernt der anders ist als sie, sie kommen sich näher und sie bemerkt das sie irgendeine Gabe hat.

Weiter komme ich nicht mit lesen, da ruft meine Mum schon durch den halben Raum nach mir. Peinlich berührt, weil mich alle ansehen, stelle ich das Buch zurück ins Regal und laufe mit gesenktem Kopf zu Mama die es sich mit einer Dame in ihrem Alter auf dem Sofa gemütlich gemacht hat.

,,Schau mal Emma, das ist Stella", Mum zeigt auf die brünette Frau die neben ihr sitzt und mich warm anlächelt. ,,Sie kommt auch aus Friedrichshafen, ist das nicht lustig?"

,,Ja", grinse ich und mache eine auf völlig interessiert und begeistert. Das ist ja unglaublich lustig. Und was für ein Zufall erst.

,,Und sie hat einen Jungen in deinem Alter", Mum strahlt noch mehr, in der Hoffnung sie könnte mal wieder Armos Platz einnehmen und mich mit jemandem verkuppeln. (Das hat sie wirklich schon einmal versucht!) ,,Wie alt war er noch gleich, Stella?"

,,Achtzehn", antwortet Stella und nimmt ein Schluck ihres Kaffees.

,,Richtig, achtzehn", Mum lacht. Die Beiden unterhalten sich weiter während ich unbeholfen da stehe und nicht weiß ob ich wieder gehen kann oder ob Mum mich noch weiter da haben will um mich auf 'diesen Jungen' aufmerksam zu machen. Ich habe langsam die ungute Befürchtung dass die Beiden sich sensationell verstehen.

...

Als ich mich auf einen Sessel gesetzt habe und mich dazu zwingen musste endlich aufzuhören alle Kekse leer zu mampfen wird das Ganze mir doch zu viel und ich stehe auf. Das Gequatsche und Gegacker löst in mir Kopfschmerzen aus. Dazu kommt der Geruch von Spekulatius, von dem ich definitiv zu viel gegessen habe.

Ich verabschiede mich von Mum und Stella und laufe nach draußen in den Flur. Ein Hallenbad mit Whirlpool fällt mir auf als ich den Weg zu unserem Zimmer zurückschlage. Den muss ich morgen früh unbedingt ausprobieren, vielleicht kommt Dad ja mit.

Ich senke den Blick, stecke die Hände in die Hoodietaschen und beobachte meine Füße die wie auf Wolken über den Teppich gleiten. Ich glaube ich war noch nie so entspannt wie jetzt, und ich bin noch keine Stunde hier.

Plötzlich, ich mal wieder der größte Pechvogel, knall gegen jemanden und schwanke hin und her. In der Hoffnung ich werde noch aufgefangen lande ich auf dem harten Boden. Verdammte Hoffnung. Wird man in Büchern nicht immer von einem heißen Typen aufgefangen? Ich bin wohl eine Ausnahme.

,,Aua", meckere ich und fahre mir über meine braunen Haare. Das wird eine große Beule am Hinterkopf geben.

,,Ach wenn dass nicht das Moppelchen ist", am Klang der spöttischen Stimme muss ich gar nicht aufschauen um zu sehen wer da vor mir steht und mich gnadenlos auf den Boden fallen gelassen hat.

,,Ich wusste gar nicht das die hier auch Arschlöcher rein lassen", ich stehe auf und klopfe mir den imaginären Staub von der Jogginghose, die ich noch immer von der Fahrt an habe.

,,Oh mein Charme ist sehr überzeugend", ich kann das Grinsen aus seiner Stimme hören. Bin ich verrückt, dass ich das Grinsen heraushören kann?

,,Sie hatten einfach nur Mitleid mit dir", entgegne ich gleichgültig und sehe ihn an. Er trägt ein dunkelblaues Shirt das ihm am Bizeps spannt und dazu eine kurze Sporthose.

,,Sicher, aber wie hast du es hier hereingeschafft? Bist du die Putzfrau die ich schon überall gesucht habe, wen ja, kannst du mein Bett mal wieder machen", er verschränkt die Arme und sieht mich belustigt an.

,,Ich muss dich leider enttäuschen, ich bin nicht die Putzfrau. Kaum zu glauben, aber ich mache hier Urlaub. Jedenfalls hatte ich es vor", ich blicke ihm in seine strahlenden blauen Augen. ,,bis ich dein Gesicht gesehen habe"

,,Ohh", er pfeifft anerkennend durch die Zähne. ,,Der Tiger fährt seine Krallen aus."

Meine Augen verdrehen sich wie automatisch. ,,Lass mich durch", ich drücke mich an ihm vorbei und laufe weiter.

Und während ich da vor dem Aufzug stehe und die hässliche Vase auf dem kleinen Tisch betrachte, wird mir klar, dass Mum einen riesen Fehler macht wenn sie sich mit Stella befreundet.

Vielleicht mag ich dich ja morgen? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt