Erinnerungen

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“Ich denke nicht mal daran.”, gebe ich ihm schließlich kühl als Antwort auf seine im Raum schwebende Frage. “Erwin, bitte überdenke es doch noch einmal. Du bist der einzige Sohn deines Vaters. Du bist der rechtmäßige Nachfolger.” Meine Gesichtszüge bleiben kalt. “Ich habe einen Job den ich liebe. Ich werde ihn definitiv nicht gegen die Position meines Vaters eintauschen.” Eduard seufzt. “Ich verstehe nicht was du daran so toll findest kleine Rotznasen zu unterrichten! Außerdem hat niemand etwas von eintauschen gesagt. Du könntest auch beides sein.” Ich brauche nichtmal eine Minute um über seinen Vorschlag eine Entscheidung zu fällen. “Ich verzichte trotzdem.” Eduards Ader auf seiner Stirn beginnt zu pulsieren.

“Erwin! Du bist der einzig wahre Nachfolger! Du wärst die beste Lösung für uns alle!” Sein Blick verändert sich nahezu augenblicklich, als hätte er etwas ausgeplaudert, was er nicht sagen sollte. “Was meinst du damit ?” Eduard lehnt sich wieder zurück und reibt sich die Stirn. “Nichts. James wird dich jetzt in dein Zimmer bringen. Bitte denke nochmal darüber nach.” Die Tür geht auf und James lächelt mich an. Ich zögere kurz. Ich will wissen was Eduard damit meinte, aber ich weiss, dass er, wenn er so ist wie jetzt, nicht sehr gesprächig ist. Ich stehe auf und laufe aus dem Zimmer. James schließt die schwere Tür.

“Wo sind die anderen ?”, frage ich James, während er mich zu meinem Zimmer begleitet. “Unterwegs. Sie hatten noch etwas zu erledigen.” Als ich aus einem der mannsgroßen Fenster sehe, ist es bereits stockfinster. Der weiße Marmorboden glänzt im hellen Licht der riesigen Kronleuchter und wird nur in der Mitte von einem einzigen roten Läufer abgelöst. Nachdem wir ihm eine Weile lang gefolgt sind, kommen wir endlich an meinem Zimmer an. James öffnet mir die Tür, wünscht mir noch eine “Gute Nacht”, wie er es früher immer getan hat als ich klein war und schließt die Tür hinter mir. Ich stehe allein gelassen in meinem alten Zimmer. Es sieht genauso aus, wie zu dem Zeitpunkt vor 13 Jahren als ich es verlassen musste. Das Bett, der Schreibtisch, der braune Ledersessel, der Kleiderschrank, selbst die Poster an der Wand sind dieselben.

Ein alter Mann im Anzug klopfte an der Zimmertür des Jungen und öffnete sie, nachdem keine Antwort kam einen Spalt breit. “Deine Eltern möchten mit dir zu Abend essen.” Der Junge lag zusammengekrümmt auf seinem Bett, den Rücken der Tür zugewandt. “Ich hab keinen Hunger.” Der Mann zog ein trauriges Gesicht und versuchte es weiter. “Du musst aber was essen. Du hast den ganzen Tag nichts gegessen.” Der Junge krümmte sich noch mehr zusammen. “Das ist mir egal.” “Erwin…” Der Mann trat ein und schloss die Tür hinter sich. “Dein Vater hat es doch nicht böse mit dir gemeint. Er macht sich doch nur Sorgen um dich.” Ein leises Schluchzen war zu hören. “Hey…” Der alte Mann kam auf den kleinen Jungen zu, setzte sich auf den Bettrand und strich ihm sanft über das Haar. “Mach dir keine Sorgen. Sobald dein Vater alles geklärt hat, kannst du wieder mit den anderen zur Schule gehen und draußen spielen, soviel du willst.” Das Schniefen verstummte kurz. Endlich drehte sich der Kleine um. “Wirklich ?” “Ja. Es wird alles gut.”, lächelte der alte Mann freundlich. Der Junge drehte sich wieder weg und fragte dann kleinlaut: “Kann… kann ich einen Schokopudding haben ?” Der alte Mann lachte kurz auf und strich ein letztes Mal über die blonden Haare des Kleinen. “Natürlich kannst du das. Ich bringe dir welchen hoch.”

Ein trauriges Lächeln bildet sich auf meinen Lippen. Nichts ist gut geworden. Ich setze mich auf den Sessel und blicke aus dem Fenster. Wie ich den Ausblick auf den Nachthimmel geliebt habe. Immer wenn ich traurig war oder es mir schlecht ging, setzte ich mich ans Fenster und beobachtete die Sterne. Manchmal saß ich stundenlang da und tat nichts anderes. Einmal schlief ich sogar ein. Am nächsten Morgen wachte ich in eine warme, kuschelige Decke gehüllt auf. Ich weiss nicht genau wer es war, aber ich habe das starke Gefühl, dass James damit etwas zu tun hatte.

Mein Blick fällt auf das silberne Feuerzeug in meinen Händen. Durch die vielen durch den Brand entstandenen braunen Flecken sieht es sehr mitgenommen aus. Außerdem sind einige Kratzer und kleine Dellen zu sehen. Es fühlt sich irgendwie komisch an, es in der Hand zu halten mit dem Wissen, dass es eines der letzten Dinge ist, die von meinem Vater übrig geblieben sind. Ich fühle mich betäubt, nicht fähig irgendwas zu spüren. Nur noch die mit seinem Verschwinden entstandene Leere, gibt mir das Gefühl noch am Leben zu sein. Noch ein Mensch zu sein. Der Raum ist dunkel. Dicke Wolken sind aufgezogen und ersticken das helle Licht des Mondes. Ich fühle mich einsam. Verlassen.

Ich zünde das Feuerzeug und beobachte die leuchtende Flamme. Warmes Licht breitet sich im Raum aus und kämpft gegen die überlegene Macht der Dunkelheit an. Die Flamme ist die einzige Lichtquelle im ganzen Raum. Sie tanzt nach dem Rhythmus meines Atems. Sie flackert, kämpft um ihr Überleben. Eine unsichtbare Macht ringt sie zu Boden. Sie wird kleiner. Schwächer. Ein kleiner Windstoß genügt und ihr Leben ist erlischt. Wieder bin ich allein mit der Dunkelheit. Allein mit meinem Schmerz.

Der kleine Junge hatte einen schwarzen Anzug an. Sein Gesicht war das Ebenbild von Leid und Schmerz. Tränen flossen ihm ungehindert in Strömen, seine Nase triefte. Etliche andere Männer standen hinter ihm, auch sie waren schwarz gekleidet. Der Vater stand neben dem Jungen. Alle Blicke waren auf die dunkelbraunen Särge gerichtet. Auf einem mit besonders vielen Blumen stand das Bild einer bildschönen Frau. Einer nach dem anderen wurden die Särge weggebracht und in eines der unzähligen Erdlöcher versenkt. Mit jedem schwindenden Sarg, wurde das Weinen des Kleinen mitleidserregender und herzzerbrechender. Als schließlich der Sarg mit dem Bild der Frau weggebracht werden sollte, stürzte sich der Junge auf ihn und hielt in fest. “Mama! Lass mich nicht allein! Ihr könnt sie mir doch nicht einfach so wegnehmen! Mama!” Sein Weinen wurde flehender, lauter. Niemand sagte etwas. Der Junge klammerte sich an den Sarg und wollte ihn nicht loslassen. Sein Vater zog ihn schließlich an seinem Arm zurück und hielt in fest. Der Junge wollte sich losreißen, doch sein Vater packte nur umso fester zu. Der Kleine musste tatenlos zusehen wie der Sarg versenkt und Erde draufgekippt wurde. Er schrie, zappelte, zerrte, doch nichts half. Die Miene seines Vaters blieb eisern und hart. Er schenkte ihm keine Beachtung. Auch die Männer blieben stumm und ohne Regung stehen. Der Junge fiel auf die Knie. Seine Finger bohrten sich tief in die Erde. Auch jetzt noch weinte er bitterlich. “Erwin.”, der Junge verstummte kurz, weil es ihn überraschte. Es war das erste Mal, dass er seinen Vater an diesem Tag sprechen hörte. Seine Stimme klang rau und belegt, dennoch war sie eiskalt. “Du bist jetzt ein Mann. Männer weinen nicht.” Der Junge schwieg. Er hob seinen Blick vom Boden um seinen Vater anzusehen. Der eiserne Blick seines Vaters war in die Ferne gerichtet. Eine neue Welle der Tränen kämpfte sich an die Oberfläche. Sie strömten sein Gesicht herunter. Er schwieg jedoch.

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