05

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Erneut eilt Cintia auf die Toilette, schließt die Kabinentür hinter sich und setzt sich stark atmend hin. Mit der linken wischt sie sich eine Träne aus dem Gesicht, beißt die Zähne zusammen, versucht leise zu sein. Sie hört die schwere Türe der Mädchentoilette schleifen, hastige Schritte folgen ihr. «Cintia?», fragt Tabea im Flüsterton, Cintia gibt nur ein Wimmern als Antwort. Die Schritte von Tabea halten vor Cintias Kabine inne, Cintia antwortet nun: «Ja». «Was los?», will Tabea nun wissen, Cintia zuckt mit den Schultern, merkt, dass Tabea sie nicht sieht und wiederholt das Schulterzucken mit Worten: «Weiss nicht.» So verläuft der Tag, immer und immer wieder eilt Cintia zur Toilette, Tabea folgt ihr, Pause für Pause - manchmal sogar während der Lektion. Die Klassenkameraden tuscheln schon, auf der Toilette sind manche Mädchen direkter - «Iiiiiih!» - obwohl der faulige Geruch nicht sehr stark ist. Cintia wird es von mal zu mal unangenehmer, bevor der Schultag fertig ist, packt sie ihre Tasche. Es gehe ihr nicht so gut, meint sie zur Lehrerin und verschwindet. Es waren nicht die Schmerzen, es waren nicht die gefühlt hunderte von Toilettenbesuche - es waren die Kommentare der Mädchen. Cintia mochte nicht mehr, sie wollte nur noch nach Hause in ihr Bett. Ruhe haben von alle dem, ruhe von den anderen.

Zuhause wickelt sich Cintia in ihre Kuscheldecke, legt sich auf das Sofa, will nicht mehr auf die Toilette. So liegend wird sie von ihrer Mutter angetroffen. Diese trifft schnell eine Entscheidung, Cintia muss zum Arzt. Trotz allem sträuben findet sich Cintia bald in der Praxis, sie muss in einen Becher pinkeln - es ist ihr peinlich. Mehrere Minuten braucht sie auf der Toilette, bevor die ersten Tropfen in den Becher fallen. Mittelstrahl? Im Moment nur ein Fremdwort für sie. Sie will weg hier, es gefällt ihr nicht. Warten müssen, Resultate, viele Worte vom Arzt. Kälte um ihre Harnwege? Oder sich falsch abgewischt? So als ob sie diesem lächelnden Herrn alles erzählen würde. Aber nein, sie sass nicht auf einem kalten Stein und sie rannte nicht nass im Bikini herum. Es war etwas anderes, das wusste sie nun - doch das war ihr privates Leben.

Mit einer Packung Antibiotika und vielem anderen wird sie aus der Praxis entlassen. Ihre Mutter macht ein mitleidendes Gesicht. Cintia hasst gerade alles. Weshalb hatte sie nur - nur die Anleitung befolgt? Während der Rückfahrt ist sie in Gedanken versunken, hört ihrer Mutter nicht zu. Weshalb? Sie verteufelt ihre Geschichte - ohne die wäre es nie soweit gekommen. Ohne ihre Unerfahrenheit. Ohne, ohne.

Mit einer Tasse Bärentraubenblättertee sitzt sie vor ihrem Handy, schaut sich die Kommentare an. Die Leser sind schnell. Sehr schnell.

iLoveMyLife: Haha - Justin Bieber ist wirklich kein Künstler!
> Trampoline: @iLoveMyLife: Du bist voll doof. Justin Bieber ist der beste Sänger der Welt.
> iLoveMyLife: @Trampoline: Findest du das Musik was JB spielt? Das ist nur Lärm mit einem Babyface als Stimme.
> Trampoline: @iLoveMyLife: JB is Love, Love is JB. Du bist doch nur neidisch!
> iLoveMyLife: @Trampoline:JB Fans sind blinde, taube Menschen ohne eigene Meinung.
> Trampoline: @iLoveMyLife: Du hast doch keine Ahnung! JB hat mehr erreicht als sonst irgend ein Künstler in den letzten Jahren. Oder nenn mir mal einen Musiker, welcher Konzert für Konzert die größten Hallen füllt?
> iLoveMyLife: @Trampoline: Qualität vor Quantität. Jeder kann sich mal täuschen.
> Trampoline: @iLoveMyLife: Du bist so ein Arsch!
> iLoveMyLife: @Trampoline:lieber ein Arsch als ein JB Fan.

Cintia schmunzelt. Soll sie die Kommentare löschen? Kann beleidigend sein, sie grinst. Es gefällt ihr, unbewusst trinkt sie weiter den Tee, ist mit den Gedanken schon wieder bei ihrer Geschichte. Was wird mit Ev passieren? Ein Kuss? Aber - Cintia kaut auf ihrer Lippe. Wie geht ein Kuss? Zu tausend hat sie den schon gesehen, in Filmen, auf der Straße. In vielen Geschichten kommt der Kuss vor - aber wie fühlt er sich an? Klar, sie hat mal einen Kuss von den Eltern gekriegt - auf die Stirn. Aber das war noch lange nicht der Kuss, den sie sucht. Trotzdem könnte sie weiterschreiben, deshalb öffnet sie den Laptop. Ihr Handy vibriert, eine Nachricht von Tabea, sie komme noch vorbei. Keine Frage, nur die Feststellung. Cintia antwortet mit einem einfachen ‹ok›, wendet sich dann wieder ihrem Laptop zu, tippt die 05 in das Textdokument, schließt kurz die Augen, atmet tief durch.

SEX, BAD BOYS, GIER - Sehnen der LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt