07:00 - Sieben Uhr

99 5 1
                                    


Die Wochen zogen an mir vorbei, die Zeit rann mir durch die Finger. Tapfer überstand ich jeden weiteren Tag in dem Gewissen, dass er jeden Morgen am Schultor auf mich wartete. Aus unserer anfangs mysteriösen Beziehung entwickelte sich eine Art Freundschaft. Noch immer birgt jeder seine eigenen Geheimnisse, verfügt über sein eigenes Nest, in welches jeder sich zurückzieht. Wir sind nicht eng, jedoch auch nicht fern. Wir sind weder Fremde noch Freunde, schlichthin sind wir gemeinsam.

Der Winter zieht an uns vorbei, der Frühling naht und wird uns mit seiner lebendigen Pracht begrüßen.

Eines Abends sitzen wir auf dem Schulhausdach. Lebensmüde haben wir uns wie so oft auf der hüfthohen Betonmauerung niedergelassen, die grundsätzlich verhindern sollte, dass man hinunterfällt. Doch wir ignorieren ihren Zweck, lassen risikolustig unsere Beine baumeln, in die Tiefe unter unseren Füssen.

Tagsüber ist das von den Lehrern verbotene Schulhausdach das Schlachtfeld von Schlägereien und nachts wird es zum Platz unser beiden. Da der Direktor Aloysius' Onkel ist, steht ihm der Schlüssel fürs Schulgebäude und Schuldach zu. Ohnehin sind die Klassenzimmer abgeschlossen, sodass der Rektor offenbar kein Problem darin sieht. Zudem weiß jeder, der Aloysius kennt, dass er über keinerlei Hinterhältigkeit verfügt. Er ist eine ehrliche Persönlichkeit und zeitgleich unheimlich taff. Er verfügt über eine innere Stärke, für die ich ihn zutiefst bewundere. Immer wenn er mich mit seiner Anwesenheit beglückwünscht, bekomme ich ein bisschen von seiner Kraft ab, fühle die von ihm ausgehende Wärme und das in ihm brennende Feuer. So fühle ich ebenso in diesem Augenblick Flammen in meinem Körper tanzen, Hitze in mir aufkommen.

Ich genieße seine stumme Anwesenheit. Aloysius drängt mich nicht in eine Beziehung, zwingt mich keineswegs eine Bezeichnung dafür zu finden, was zwischen uns ist.

Geräuschvoll atme ich die kühle Nachtluft ein, lächle unbekümmert dem Sternenhimmel entgegen. Sobald die Nacht hereinbricht und meine Stiefmutter und -schwester zu Bett gehen, verlieren sie die Kontrolle über mich. Solange sie nächtigen bleibe ich ein freier Vogl, eine weiße Taube, dennoch stutze ich selbst meine Flügel, indem ich mich in der Anwesenheit Aloysius' einsperre. Doch hingegen zu dem Käfig meines Heims, bleibe ich für Aloysius freiwillig ein Gefangener. Für ihn würde ich mich selbst zum Sklaven machen, mich freiwillig in Ketten legen, eine Leine tragen, welche über jede meiner Bewegungen bestimmt. Ich bin ein Besessener, süchtig nach seiner Ausstrahlung nach seiner Wärme. Ich fühle die Berührung seiner Fingerspitzen an meinen mit jeder Faser meines Körpers, schmelze unter der heißen Sonne meiner Gefühle dahin wie Eiscreme.

Ich jage meinen Gedankengängen hinterher, studiere meine Gefühle wie ein seltenes Schmetterlingsexemplar. Weggetreten von der Realität und zeitgleich von Aloysius' Feuerlicht geblendet, bemerke ich kaum, wie mir herausrutscht, was mir seit Tagen auf der Zunge brennt: „Aloysius, du schimmerst so hell, wie all diese Sterne zusammen." Diese Aussage veranlasst ihn zu einem leisen, rauen Lachen.

„Ich habe eine hässliche Narbe im Gesicht, die andere Leute vermuten lässt, ich würde in der Nacht Menschen abmurksen gehen, mich für den düstersten Gangster der Stadt halten und du sagst mir, ich wäre heller als all die Sterne zusammen?" Ich spüre seinen Blick auf meiner linken Wange kribbeln, er widmet mir all seine Aufmerksamkeit. Ich hingegen sehe ihn nicht an, richte die Augen weiterhin gen tintenschwarzen Nachthimmel.

„Wer lange genug zum Himmel blickt, wird alle Sterne funkeln sehen." Ein zaghaftes Lächeln schleicht sich auf meine Gesichtszüge. „Wir alle bergen ein ganzes Universum, doch jeder entscheidet für sich, wie lange man dieses betrachtet." Nun wende ich den Kopf zu ihm, begegne seinen wunderschönen, grünen Augen. In ihnen erkenne ich all die strahlenden Sterne, ihr Licht, ihre Hitze.

„Du bist wahrlich einzigartig, Cyan", wispert er mir zu, sein heißer Atem streicht zärtlich über meine Wange. Unsere Gesichter sind so nah, dass ich mich unmöglich gegen das dringliche Verlangen wehren kann, ihm in die Augen zu sehen. Ich versinke im grünen Sternenhimmel, dem All, seinem Universum – offen wie ein Buch und dennoch behütetes es unzählige Geheimnisse, Geschichten, die ihm niemals über die Lippen kamen.

„Bin ich dir trotzdem wichtig?", will ich wissen, wobei ich den weinerlichen Unterton nicht unterdrücken kann. Aloysius grinst und legt seine warme Hand beruhigend auf meine.

„Gerade deswegen." Mein Herz pocht lautstark, mein Puls kocht. Der Drang übermannt mich, seine Lippen kosten zu wollen, jedoch steht es mir nicht zu. Ich bin sein Sklave, lediglich eine Taube mit gestutzten Federn, deren Flügel in diesem Augenblick vollends rausgerissen werden. Ich nehme mir jeglicher Freiraum, indem ich meinen Wunsch unterdrücke, meine Hoffnung selbst gewaltsam zertrümmere.

Nichtsdestotrotz lächle ich mein Gegenüber an, jenen Menschen, der mir innert weniger Wochen wichtiger als alles andere geworden ist. Ich bin gerne eine niedergeschossene Taube, wenn es Aloysius' Pfeil ist, der mich mordet.

Der Klang der Kirchenglocke entführt mich aus meinen Träumereien, den unreellen Fantasien. Ich wache aus einer Art Trance, aber fühle mich noch immer benommen, als ich mich erhebe.

„Zeit zu gehen." Drei Worte, die unseren perfekten Augenblick, genauso perfekt zerstört.

*


Mitternachtstanz [Cinderella Story]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt