00:00 - Mitternacht

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Einen Tag nach dem Ball sitzen Aloysius und ich wie so oft auf der Kante des Schulhausdaches.

„Ich habe eine interessante Person auf dem Ball getroffen", setzt Aloysius selig lächelnd an. „der gestrige Abend erscheint mir noch immer wie ein Traum, eine nächtliche Fantasie." Verstohlen werfe ich ihm einen Seitenblick zu. Ich will den Mund öffnen, die Wahrheit über meine Lippen bringen, stattdessen bleiben sie verschlossen.

„Manchmal ist es besser wenn ein wunderschönes Ereignis nichts als ein Traum bleibt, einen Augenblick nach dem man sich jahrelang sehnt." Betrübt senke ich den Blick. Aloysius' Herz schlägt für die junge Frau, die ich gestern war. Sein Herz wird brechen, wenn er die Wahrheit erfährt, genauso wie die wundervolle Erinnerung. Sie wäre von keinem Wert mehr, würde zu scharfen Scherben zersplittern an denen man sich schneidet, geht man in der Zeit zurück.

„Meinst du?" Im Augenwinkel erkenne ich, wie Aloysius nachdenklich den Kopf schüttelt. „Wie können wir uns selbst denn so weh tun? Wie können wir uns selbst derartig schaden, wenn wir innerlich nach der Wahrheit gieren, die wir äußerlich als eine lebendige Fantasie abtun?" Zwei Finger schieben sich unter mein Kinn, heben es an. Aloysius legt nun beide Hände an meine Wangen, zwingt mich ihn anzusehen. Seine warme Berührung kribbelt auf meiner Haut, der sanfte Ausdruck in seinen wundervollen Augen lässt mich zerschmelzen.

„In den letzten Tagen habe ich viele interessante Begegnungen gehabt.

Cee, deren tiefen Schmerz die gesamte Menschheit verabscheuen ließ.

Ypsilon, die nach einem unschönen Zusammentreff von Wunder redete.

Ah, die wie ein fantasierendes Kind Bedeutungen in Buchstaben sah.

Und Enn ist am interessantesten, denn sie hat niemals existiert, dennoch sagte sie mir, ich solle sie finden.

Besagte Person gestern hat mich derartig fasziniert, dass ich sie allen Ernstes für eine Fremde hielt, für jemand anderes als ein Trugbild hielt." Seine Mundwinkel heben sich zu einem zarten Lächeln, seine Augen verengen sich zu niedlichen Mondsicheln. „Doch sie war keine Fantasie, kein Traum, denn ich habe dich gefunden, Cyan."

Mein Herz rast, hämmert unaufhörlich in meiner Brust. Hitze erfüllt meinen Körper, das Verlangen übermannt mich. Meine Augen schließen sich erwartend. Unsere Lippen finden den Weg zueinander, schmelzen zusammen. Prickelnd, wie tanzende Schmetterlinge, fühle ich seine Berührungen.

Aloysius und ich – wir sind alles.

Doch alles ist lediglich ein Trugbild, eine Lüge, genauso wie Aloysius. Seine Körperwärme versiegt in der Kälte und seine Berührungen in der Einsamkeit.

Ich öffne sie Augen, blicke traurig auf die Hände in meinem Schoss nieder.

„Ja, Aloysius, wie kann ich mir selbst so weh tun, ein Traum zu einer lebendigen Lüge zu machen?", wispere ich in den Sommerwind, der sanft über mich hinwegstreicht. Ein schmerzliches Lächeln bildet sich auf meinen Lippen. Mit ihm kommt die verlogene Erinnerung an den Ball.

Die Maske diente nicht zur Atmosphäre, sondern zum Schutz. Das wunderschöne Ballkleid, geendet in Schutt und Asch, um die Schuldgefühle zu vernichten. Aloysius war meine Flucht vor der Realität, denn anstelle seiner Hand, hielt ich das kalte Metall – das kalte Metall jener Pistole, die einen Schuss nach dem anderen feuerte.

Das gewohnte, melodische Glockenleuten der Kirche vernichtet die Bilder vor meinem inneren Auge. Dankbar dafür erhebe ich mich und drehe dem Abgrund den Rücken zu. Eine eiskalte Träne bahnt sich den Weg über meine Wange. Ein Schluchzen lässt meine Schultern erbeben.

„Zeit zu gehen", drei Worte, die mir immer als Abschied dienten. So werden sie das einzige sein, was ich in dieser grausamen Welt zurücklasse.

Ich lasse mich fallen. In ein weiches Wolkenbeet, das sich unter meinem Kopf rot färbt, genauso rot wie das Blut an meinen Händen.

Du und ich war keine Lüge, lediglich eine Fantasie.

Wir waren alles, ich bin nichts.

*


Mitternachtstanz [Cinderella Story]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt