05:00 - Fünf Uhr

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Schniefens wische ich mir mit dem Handrücken über die Augen. In der schützenden Dunkelheit der Nacht weine ich leise in den unsicheren Wänden meines Zimmers. Unsanft ziehe ich den Reißverschluss des schwarzen Putzfrauenkleides auf, schlüpfe aus dessen Trägern uns lasse das verhasste Kleidungsstück an mir herunter auf den Boden sinken. Ich verabscheue meine Schwester für die heutige Qual, die sie mir antat. Sie zwang mich, dieses bescheuerte Kleid anzuziehen und setze mich hilflos dem Gelächter ihrer Freunde aus. Meine Stiefmutter würde dies als meine Bestrafung ansehen, würde es gutheißen, dass ich mich nun für mich selbst schäme.

Ich bin lächerlich, vergieße ich deswegen Tränen.

Ich bin erbärmlich, indem ich mich vor meiner Schwester fürchte und ihre Gemeinheiten über mich ergehen lasse.

Ich bin armselig, kann ich mich nicht wehren.

Wütend über meine eigene Feigheit, mache ich meiner Frustration Platz, indem ich das Kleid aufhebe und gewaltsam auf meinen Schreibtisch schmettere. Zornig greife ich nach einer Schere und schneide wutentbrannt in den Stoff. Mit Händen reiße ich es in Stücke, lebe all meinen Hass mir selbst und der gesamten Welt gegenüber aus.

Wild atmend blicke ich auf den Haufen von Stofffetzen nieder, eine zerstörte Existenz. Ich habe eine Bedeutung und der Gedanke dahinter ermordet, kaltblütig in Stücke gerissen. Die brutale Verunstaltung des Kleides bringt mir Erleichterung, ein bisschen Luft zum Atmen in meinem schmerzerstickten Herzen. Menschen zerstören zu ihrem eigenen Zweck, vernichten zu ihrem eigenen Wohl. Menschen sind wahrlich grausame Wesen.

Ein Klopfen an meiner Fensterscheibe lässt mich herumfahren. Eine dunkle Silhouette zeichnet sich hinter dem Glas. Sein Gesicht liegt im Schatten, dennoch erkenne ich ihn. Niemand geringeres als Aloysius würde jemals vor meinem Fenster stehen, zumal nur ein Verrückter auf das Vordach klettert würde.

Mein Zorn, mein unstillbarer Frust verpufft augenblicklich. Ein fröhliches Lächeln übermannt meine Gesichtszüge. Freudenstrahlend trete ich zum Fenster hinüber, reiße es ungeduldig auf. Kälte flutet in den Raum, zieht schaudernd an mir vorbei. Gänsehaut breitet sich auf meinem spärlich bekleideten Körper. Schamwärme kriecht meinen Nacken hinauf, als mir einfällt, dass ich oberkörperfrei vor ihm stehe. Gekonnt ignoriere ich diese Tatsache. Nacktheit hat noch nie eine Freundschaft zerstört.

„Loy", schreie ich ihm förmlich entgegen. „Entschuldige, dass ich nicht auf dem Schulhofdach erschienen bin." Angesprochener zieht besorgt die Augenbrauen zusammen. Er streckt seine Hand nach mir aus, legt seine kühlen Fingerspitzen an meine Wange.

„Scheinbar habe ich mich zurecht gesorgt." Sein Daumen wischt zart eine herunterrollende Träne weg. Ich habe nicht bemerkt, dass ich noch immer weine. Vor Aloysius ist es mir noch nicht mal peinlich, anstelle von Beschämung breitet sich in mir ein wohliges Gefühl. Mein Herz pocht einen Schlag höher, flutet meinen Körper mit Wärme.

„Ich habe keinen Grund zur Trauer", wiederspreche ich lächelnd, in dem Versuch ihn zu beruhigen. „Wenn du da bist, nicht mehr." Seine grünen Augen funkeln mich durch die Finsternis hindurch an, glitzern wie tausende von Sternen.

„Bin ich dir so wichtig?" Kurz huscht ein zaghaftes Lächeln über sein Gesicht, ehe Neugierde dieses wieder verblassen lässt.

„Du bist mir nicht wichtig." Wie ein Kätzchen schmiege ich meine Wange in seine Handfläche. „Du bis der Sternenhimmel über mir, das weite All, Aloysius. Du bist alles."

„Ich liebe dich, Bruder", erwidert er lachend, seine Augen verengen sich dabei zu Halbmonden. „Gegen deines klingt mein Liebesgeständnis ziemlich lahm."

Wenn er nur wüsste, dass diese Aussage reicht um mich mit Glückshormonen zu überfluten. Wenn er nur wüsste, wie hoch sein Geständnis mein Herz zum Schlagen bringt.

Ich liebe ihn.

Meine beiden Hände legen sich auf seine kühlen Wangen. Deutlich kann ich die raue Oberfläche seiner wulstigen Narbe unter meinen Fingerspitzen fühlen. Strahlend lehne ich meine Stirn an Seine.

„Du und ich gehören zusammen", sage ich überzeugt. Aloysius lächelt, widerspricht mir jedoch: „Du und ich ist doch eine Lüge. Wir gehören zusammen, wir sind alles."

„Wir sind alles", wiederhole ich träumerisch. Drei Worte, die auf meiner Zunge zergehen wie zartbittere Schokolade.

*


Mitternachtstanz [Cinderella Story]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt