10:00 - Zehn Uhr

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Der Schnee knirscht unter meinen Füssen. Die kalte Winterluft taucht mich in ein Kältemeer und macht meine Atemzüge zu kleinen emporsteigenden Wölkchen.

Der Anblick der Schneegezierten Tannen, den niederrieselnden Flocken und dem Schneeschichtbedeckten Waldboden entlockt mir ein seliges Lächeln.

In naher Ferne vernehme ich Stimmen. Ihrer rauen Wortwahl zu urteilen sind es Jugendlich, womöglich Schüler in meinem Alter.

Neugierig schleiche ich mich an, linse zwischen Tannenästen auf eine Gruppe von Jungen.

Einer mit einer sportlichen Statur steht ein Stück abseits, lenkt allerdings die Aufmerksamkeit der anderen auf sich. In einer langsamen, aber sichtlich geübten Bewegung zieht er einen dunkelbraunen Pfeil mit einer signalroten Feder aus dem Halter an seinem Rücken. Konzentriert spannt er ihn in den schöngeschwungenen, hölzernen Bogen. Mit einem raschen Kopfschütteln wirft er sich störende, dunkelblonde Strähnen seiner wirren Haare aus der Stirn. Seine dunkelgrünen Augen funkeln. Sein Mund hebt sich zu einem schiefen Grinsen.

Seine Finger zucken zurück und der Pfeil zischt durch die eisigkalte Luft, zerschneidet sie geräuschvoll. Letztlich endet sein Weg auf einer Zielscheibe, nicht weit von der schwarzen Mitte entfernt. Die anderen Jungs brechen in Jubel aus, feiern diesen jungen Mann. Ebenso bewundere ich ihn von dieser Ferne, bestaune, wie er mit Pfeil und Bogen hantiert, wie ästhetisch bei ihm ein Bogenschuss aussieht.

Der Junge dreht sich um, wobei mir die wulstige Narbe an seiner Wange ins Auge fällt. Ein Schlitz in seiner Wange, der von seinem Mundwinkel ausgeht. Ein Merkmal, das man ansonsten lediglich in Horrorfilmen zu sehen bekommt. Obwohl ich mich wegen der Narbe ein bisschen erschrecke, macht mein Herz einen Hüpfer, als er seine Kollegen anlacht. Sein vernarbter Mundwinkel hebt sich kaum, weswegen sein Gesicht verzerrt wirkt. Niemand würde es als hübsch bezeichnen, doch ich mag dieses Merkmal. Sein Lächeln hat Makel und das macht es so wunderschön. Er lacht trotz dieser prägenden Narbe, der Entstellung in seinem Gesicht. Er ist glücklich mit seinen Freunden, obwohl er anders, besonders ist.

Ich muss ehrlich zugeben, dass mich der Junge fasziniert. Nichtsdestotrotz zwinge ich mich dazu, den Blick von ihm zu reißen. Ich bin nicht in den Wald gekommen, um Fremde beim Bogenschießen zu beobachten, sondern um meiner eigenen Leidenschaft nachzugehen. So entferne ich mich ein Stück von den Jugendlichen, sodass ich ihren leisen Stimmen noch immer lauschen kann. Ihre Wortfetzen vermischen sich zu einem undefinierbaren Rauschen, wird zur Hintergrundmusik dieses Waldes.

Ich schließe die Augen, gebe mich ganz dem Gefühl von Ruhe und Freiheit hin. Von alleine beginnt sich mein Körper zu bewegen. Mein Körper dreht sich, ich kreise auf den Zehenspitzen. Ballett schenkt mir das Gefühl von Geborgenheit. Inzwischen all der Bäume fühle ich mich frei, wie ein Tier in der Wildnis. Ich fühle mich grenzenlos, vergesse die Gitterstäbe, die mich umrahmen, schlüpfe kurz durch diese hindurch. Beim Tanzen verliere ich jegliches Zeitgefühl, kann nicht einschätzen in welcher Geschwindigkeit der Zeiger der Uhr sich dreht.

Erst als die Schweißschicht auf meiner Haut zu brennen und der Atem in meiner Lunge zu rasseln beginnt, ende ich meinen Tanz mit einer Drehung.

Hinter mir erklingt ein Klatschen, was mich unweigerlich zusammenzucken lässt. Erschrocken fahre ich herum und erblicke den Jungen von vorhin. Lässig an einen Baum gelehnt steht er da, mich aus seinen dunkelgrünen Augen anfunkelnd.

„Das war ziemlich gut." Begeistert streckt er die Daumen in die Höhe. Sein breites Grinsen, zaubert auch mir ein Lächeln auf die Lippen. Verlegen wende ich den Blick auf meine Füße und fasse mir in den Nacken.

„Findest du das den nicht seltsam?", erkunde ich mich schüchtern. Kurz linse ich zu ihm hoch, sein Gesichtsausdruck verrät mir, dass er irritiert ist.

„Meinst du etwa, weil ein Junge Ballett tanzt?" Perplex schüttelt er den Kopf, drückt damit scheinbar seine Empörung über diese Ansicht aus. Ich halte diese Vorurteile ebenso für schwachsinnig, dennoch nicke ich zögerlich. Er lächelt daraufhin wieder.

„Wenn dich eine Leidenschaft atmen lässt, ist das alles andere als lächerlich", beteuert er, überzeugt die Arme verschränkt.

„Redest du etwa vom Bogenschießen?" Schelmisch grinse ich ihn an und genieße seine Verwirrung. Ratlos fährt er sich durch das dunkelblonde Haar.

„Ich habe dich vorhin gesehen", kläre ich ihn verschmitzt auf, ehe er zu Wort kommen kann.

„Ich bin gut, was?" Seine Augen strahlen mich an, über sein Gesicht huscht ein selbstsicheres Grinsen. Mein Herz setzt einen Schlag aus, wie in Trance gehe ich zwei Schritte auf ihn zu, stehe nun direkt vor ihm.

„Du bist faszinierend", rutscht es mir heraus, wofür ich mich sogleich selbst ohrfeigen könnte. Panisch schlage ich mir die Hand über den Mund, unterstreiche damit die Signale meiner rotanlaufenden Wangen. Mein Gegenüber kichert entzückt.

„Meine Bogenschützenfähigkeiten wurden noch nie als faszinierend bezeichnet", stellt er stolz fest, „Dafür aber immer als ziemlich gut." Erleichtert lasse ich meine Hand wieder sinken. Er fasst meine Worte nicht als seltsam auf, scheint sie viel eher zu genießen.

„Ich meine damit nicht nur, wie du Pfeile auf eine Zielscheibe schießt, sondern dich als Person", gebe ich ehrlich zu und deute demonstrativ auf seine Narbe. „Ich finde dein Lächeln besonders faszinierend." Reflexartig fasst er sich an die rechte Wange. Er schenkt mir einen überraschten Blick. Ich glaube sogar einen leichten Rotschimmer auf seinen Wangen erkennen zu können, was verständlich auch an der Kälte liegen könnte.

„Das ist nicht bloß eine Narbe." Seine Gesichtszüge sind auf einmal eisern, doch er ist keinesfalls zornig. „Es ist eine Geschichte die nicht nur mein Leben, sondern mein Gesicht ewig prägen wird. Jeder hat brutale Narben, bei mir sieht man sie eben nur." Er zuckt gleichgültig mit den Achseln. „Für mich ist es okay, ein hässliches Gesicht zu haben, wenn ich dadurch keinen scheußlichen Charakter habe."

„Diese Narbe ist nicht hässlich", wiederspreche ich beinahe entsetzt, „Gerade dieser Makel macht dein Lächeln doch so besonders, so wunderschön." Er steckt seine Hände in die Taschen seiner schwarzen Bomberjacke – eine Jacke, die kein bisschen zu seinem Charakter passen will.

„Irgendwie, ist diese Unterhaltung ganz schön schräg, findest du nicht?" Amüsiert grinsend legt er den Kopf schief.

„Dafür, dass wir uns nicht kennen, ja." Unsicher wandern meine Augen zurück auf meine Füße. „Ich bin nicht wirklich gewöhnlich." Der Andere klopft mir lachend auf die Schulter.

„Alter, ich liebe dich jetzt schon", versichert er mir strahlend, was mir prompt all meine Unsicherheit nimmt.

„Dann lass uns endlich Bekanntschaft schließen." Enthusiastisch streckt er mir seine Hand entgegen. „Mein Name ist Aloysius, aber nenn mich Loy." Ein besonderer Name, für einen besonderen Menschen, denke ich mir schmunzelnd und umschließe seine Hand fest, als würde ich befürchten, er könnte fliehen.

„Cyan, ich bin Cyan."

                                                                              *


Mitternachtstanz [Cinderella Story]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt