Überzogen von einer dünnen Plastikfolie, glitzert mir der blaue Stoff des Kleides entgegen. Ein Lächeln bildet sich auf meinen Lippen, während ich es hinausziehe, das wunderschöne Ballkleid jenes einst meiner Mutter gehörte, so wie die meisten meiner Frauenklamotten. Ich kenne meine Mutter kaum und habe keinen Kontakt zu ihr. Ich weiß weder wo, noch wer sie ist, dennoch bilde ich mir ein ihren Duft würde mich einhüllen, sobald ich ihre Kleidung trage. Es ist unmöglich, dass nach all den Jahren auch nur eine Nuance ihres Geruches in dem Stoff haften blieb, dem bin ich mir bewusst, doch ich der Gedanke ihr dadurch näher zu sein macht mich glücklich.
Mit einem verträumten Lächeln streiche ich darüber. Der Plastik knistert unter meinen Fingern. Die weiße Maske mit dem silbernen Schnörkelmuster, die ich mir gestern kurzfristig gekauft habe, passt perfekt dazu, genauso wie die silbernen Stöckelschuhe.
In wenigen Stunden werde ich besagtes Kleid und eine Schwarzhaarperücke tragen. Ich werde die Bewunderung aller auf mich ziehen, sie mit meinem Erscheinen verzaubern. Niemand wird wissen wer ich bin, bis auf Aloysius – vielleicht. Ich werde spontan entscheiden ob ich ihm mein Geheimnis offenbare oder nicht. Selbst meine ach so perfekte Schwester werde ich in den Schatten stellen, ich werde all den verdorbenen Schülern beweisen, dass ich besser als sie alle bin. Ich bin, wer ich bin und darauf möchte ich stolz sein.
Siegessicher grinse ich.
*
Die Uhr schlägt halb Elf, als ich die gläsernen Türen zum hergerichteten Pausensaal aufstoße. Ein roter Teppich führt von dem Eingang über die weißen Bodenplatten bis an die gegenüberliegende Wand. Direkt führt er zu dem länglichen, dunkelhölzernen Tisch, geschmückt mit einem weißen Tischtuch, worauf die Hauptattraktion, der Punch, mitsamt unzähligen Plastikbechern und Glasschalen gefüllt mit Knabbereien, dekorativ platziert wurde.
Der Raum wird von fröhlichen Klänge gefüllt, einer Melodie, die einem unter die Haut geht, einem steuert wie eine Marionette. Zweierpaare haben sich gebildet, gemeinsam hin- und herwiegend im Rhythmus der Musik.
Mit dem Eigenzuspruch, das Beste würde immer zum Schluss kommen, wage ich den ersten Schritt, schreite betont langsam aber elegant den Teppich entlang.
Jungen wenden mir den Kopf zu, deuten mit dem Finger auf mich und erkundigen sich nach meinem Namen. Mädchen bedenken mich mit bewunderndem Blick, andere verengen eifersüchtig die Augen. Unter der Menge mache ich selbst meine Stiefschwester aus, in ihrem roten, kurzen Kleid, der Ausschnitt tief und eine goldene Kette fällt verschmitzt hinein. Vor Entsetzen steht ihr der Mund offen. Wie ich sie kenne, wollte sie diejenige sein, zu der sich jeder umdreht, der alle ihre Aufmerksamkeit schenken.
Ein triumphierendes Grinsen huscht über mein Gesicht. Es erstirbt, sobald ich Aloysius erblicke. Er trägt eine dunkelblaue, enganliegende Stoffhose, ein schwarzes, weitaufgeknüpftes Hemd und die blaue Krawatte locker um den Kragen gebunden. Darüber trägt er ein schwarzes Jackett mit dunkelblauem Saum. Seine schwarze Maske ist schlicht, verdeckt lediglich seine Stirn uns Nase, weswegen ihn jeder erkennt. Seine Narbe ist nicht zu übersehen, ein penetrantes Merkmal, welches ihn für andere hässlich und für mich stark und wunderschön macht.
Zielstrebig steuere ich ihn an, funkle ihn aus dunklen Augen erwartungsvoll an. Er versteht und streckt auffordernd seine Hand aus. Zaghaft lege ich meine Behandschuhte in seine, umschließe seine Hand mit meinen Fingern.
„Heute bist du Enn?" Vielwissend grinsend zieht er mich an sich, legt einen Arm um meine Hüft. Sanft beginnen wir zu tanzen. Unsere Bewegungen verschmelzen mit der Melodie, die uns wie fröstelnder Nebel umrahmt. Die Menschen um uns werden zu undeutlichen Silhouetten, zu Schatten unserer Bewegungen.
„Wer soll das sein?" Ich lächle verschmitzt. „Mit einer Maske trage ich keinen Namen. Ich bin einfach." Schwungvoll drehe ich mich aus seinem Griff, unsere Finger bleiben fest ineinander verflochten.
„Lass uns gehen", hauche ich ihm zu und ziehe ihn ohne zu fragen mit mir. Wir verlassen den Saal, treten ins Freie und schlagen den Weg Richtung Wald ein.
Inzwischen all der Bäume, fern von all den Schülern, tanzen wir unter dem Schein des Mondlichts. Das Heulen des Windes, das Rauschen der Baumblätterpracht wird zu unserer Musik, der Tanz zu unserer Leidenschaft. Wir werden eins, werden zu einem märchenhaften Traum, einer schönen Fantasie. Es lebt allein unser Atem, die Hitze zwischen unseren Körpern. Wir brennen, werden zu sterbenden Sternen, zum Funkensprüh eines reinen Wunders. Wir sind alles.
Unsere Welt zerfällt zu Glassplitter, unser zeitloses Universum endet mit unserem Sterben. Die Kirchenuhr erschallt, kündigt Mitternacht an, für mich ist die Zeit zum Gehen gekommen.
Menschen sind unendlich, Trugbilder jedoch nicht.
*
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Mitternachtstanz [Cinderella Story]
Historia Corta„Wer lange genug zum Himmel blickt, wird alle Sterne funkeln sehen." Ein zaghaftes Lächeln schleicht sich auf meine Gesichtszüge. „Wir alle bergen ein ganzes Universum, doch jeder entscheidet für sich, wie lange man dieses betrachtet." Eine nicht ga...