03:00 - Drei Uhr

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Die prickelnden Sommersonnenstrahlen schimmern orange durch die saftgrüne Blätterpracht der dichten Bäume, tauchen den trüben Wald in ein Lichtmeer. Im Sommer werden die Röcke kürzer, der Ausschnitt tiefer, die Klamotten knapper – zumindest die der Mädchen und meine. Heute trage ich einen hohen Faltenrock. Wegen dem schwarzroten Karomuster ist er eines meiner liebsten Frauenkleidungsstücke, die ich versteckt in einer Umzugskiste in meinem Schrank lagere. Mir gefällt insbesondere dazu die schwarze Ärmellose Bluse, die trotz ihres dünnen Stoffes keinesfalls durchschimmert. Die grobmaschigen Netzstrümpfe und die pinke Perücke, die ich zu einem Seitenzopf geflochten habe, könnten beinahe als Punk durchgehen, jedoch ist mein Gesamtbild viel zu brav dafür.

Heut ist ein befreiender Samstagvormittag, ohne meine lästige Familie, die einen Ausflug in die nächstgelegene Shoppingmall unterimmt.

Tief atme ich die warme Sommerluft ein. Verschmitzt prickelt sie auf meiner Zunge.

„Hey Cee", erklingt hinter mir Aloysius' helle Stimme. Ein Lächeln breitet sich auf meinen Lippen. Willkürlich habe ich hier gewartet, in der Hoffnung, er würde mich ansprechen.

„Nenn mich Ah", erwidere ich und werfe ihm einen Schulterblick durch meinen Haarschleier hindurch zu.

„Weshalb ausgerechnet Ah?" Neugierig grinsend verschränkt er die Arme. Es scheint mir, als würde er mehr wissen.

„Weil dies ein bedeutender Buchtstabe in meinem Namen ist." Ich lächle verschmitzt, in der sicheren Überzeugung, er wird nachhaken. Meine Vorahnung bestätigt sich sogleich, als er fragend wiederholt: „Ein bedeutender Buchstabe?"

„Zumindest ist er es heute für dich", verrate ich ihm, bemüht um einen mysteriösen Unterton.

„Verstehe." Er verkneift sich ein Schmunzeln. „Und nächstes Mal bist du Enn?"

„Wenn es ein nächstes Mal gibt, vielleicht", flüstere ich und wende den Blick nach vorne. In der Ferne schlägt die Kirchenglocke zwölf Uhr Nachmittag.

„Zeit zu gehen." Mit diesen Worten verabschiede ich mich, hüpfe munter wie ein Kleinkind den Waldweg entlang mit einem fröhlichen Grinsen im Gesicht.

*

An demselben Samstagabend treffe ich mich wie gewohnt mit Aloysius auf dem Schulhausdach. Wir legen uns auf den warmen Grund und schweigen den Dämmerungshimmel an, lassen den Anblick des klaren Himmels auf uns wirken.

„Welcher ist dein Lieblingsmonat, Loy?", werfe ich belanglos in die Stille zwischen uns. Derartige Fragen stelle ich oft. Bei jedem anderen wäre mir die Antwort gleichgültig, doch Aloysius sieht die Welt ein bisschen anders. Der rechte Mundwinkel schneidet kaum merklich in die Narbe ein, daran erkenne ich, dass er lächelt. Er verschafft sich Zeit, indem er die Arme unter seinem Kopf verschränkt und mir seinen Kopf betont langsam zudreht.

„Der Herbst", haucht er mir förmlich entgegen.

„Ich mag ihn nicht", grummle ich wahrheitsgemäß. „Im Herbst erlischt viel Leben. Da mag ich den Frühling, das komplette Gegenteil, lieber. Er ist lebendig und bergt unzählige Wunder."

„Gerade wegen seiner tödlichen Natur liebe ich den Herbst. Nichts ist mörderisch und derartig wundervoll zugleich. Wenn es nach dem Herbst geht, ist der Tod nicht schwarz, sondern ein Farbenspiel aus Rot-, Orange- und Brauntönen. Der Herbst beweist uns allen, dass der Tod kalt und grau, sowohl auch bunt und vorübergehend ist." In seinen Augen wiederspiegelt sich etwas Träumerisches. Seine grünen Augen funkeln faszinierend fesselnd, ziehen mich willenlos in ihren Bann. „Der Herbst präsentiert uns Hoffnungslosigkeit in vielerlei Farben. Deswegen habe ich gelernt aus dem Schlimmsten ein Trugbild zu machen, aus der Trauer etwas Schönes zu schaffen."

Ich schlucke Trocken. Seine Aussage geht mir näher als ich mir je eingestehen würde. Seine Worte erschaudern mich, versetzen meinem Herz zeitgleich einen Stich.

„Bist du ein Trugbild, Loy?", rutscht es mir flüsternd heraus ehe ich es verhindern kann. Er grinst – aus Trauer etwas Schönes zu machen, wiederhole ich gedanklich und glaube nun sein Dauergrinsen deuten zu können.

„Sind wir das nicht alle, Cyan? Hüllen wir uns nicht allesamt in eine Lüge?" Sein wissender Unterton lässt mich befürchten, dass er weiß, welch ein elendiges Leben ich führe.

„Wer bist du wirklich, Aloysius?" Er weicht meinen eindringlichen Augen aus, wendet den Blick gen Himmel.

„Wahrscheinlich nur einer unter vielen", erwidert er leise, ein schwaches Lächeln umspielt seine Lippen. „Aber für dich bin ich das gesamte Universum und nur darum geht es doch, nicht wahr?"

„Wir werden uns niemals richtig kennenlernen. Menschen sind ein Universum, sie sind unendlich und niemals komplett erforschbar. Wenn das Zeitliche sie segnet, stirbt eine Welt", philosophiere ich gedankenversunken vor mich her.

„Und genau deswegen ist der Weltuntergang mehr als eine Spekulation – der Tod ist es", fügt Aloysius an. Erneut tritt angenehmes Schweigen zwischen uns. Eine Wärme, die uns verbindet. Ein dicker Strang, der unsere Unterhaltung in stummen Dialogen fortsetzt. Wir brauchen keine Worte um einender zu fühlen, denn Sätze sind ohnehin ein Trug.

Die Glocke der Kirchenuhr ringt melodisch, zerreißt unser Beisammensein. Ehe ich den Mund öffnen kann um immer dieselben Worte um Mitternacht zu wiederholen, sagt es Aloysius für mich: „Zeit zu gehen."

*


Mitternachtstanz [Cinderella Story]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt