Musik, eine Aneinanderreihung von Tönen, in verschiedenen Nuancen. Klänge, die meinen Körper zum Beben bringen. Dank den Kopfhörer übertönt die Musik all die an mir vorbeischwärmenden Leute. Ich blende die überfüllte Straße aus, schließe die Augen und stelle mir vor, ich würde alleine auf dem peinlich sauberen Holzboden des Heimwohnzimmers stehen, ohne die unerträgliche Anwesenheit meiner beiden anderen Familienmitglieder.
Ohne zu überlegen mache ich eine elegante Ballettdrehung, tanze der Straße entlang, folge egoistisch meiner Leidenschaft. Meine dicken Kniestrümpfe verrutschen, der Wind verknotet die schulterlange, knallige Rothaarperücke – für mich keinesfalls ein Grund aufzuhören. Daran hindern mich bereits ein Mann, der mich mit einem beschwerlichen Ausruf anrempelt. Gezwungenermaßen halte ich inne und öffne meine Augen. Ein festerer Mann mit zornverzerrtem Gesicht steht mir gegenüber. Ruckartig ziehe ich mir die Stöpsel aus den Ohren, um zu einer Entschuldigung anzusetzen, er jedoch unterbricht mich.
„Mädchen, kannst du nicht aufpassen?", brüllt er mir ins Gesicht. Eine Speichelperle wird durch die Luft befördert, bis sie letztlich auf meiner Wange landet. Reflexartig verziehe ich das Gesicht angewidert und wische mir energisch über die Wange. Meine Reaktion scheint mein Gegenüber erst recht in Fahr zu bringen. Sein Gesicht taucht sich in einen dunklen Rotton, sein Mund klappt auf und ihm entfahren Worte, welche ich nicht alle entziffern kann. Schlagartig bereue ich meine Rücksichtslosigkeit, mein Egoismus mitten auf der Straße zu tanzen.
„Entschuldigen Sie", murmle ich und stolpere ängstlich einen Schritt zurück, Unsanft umfasst er mein Handgelenk. Panik durchzuckt mich, hämmert ruhelos in meinem Schädel. Keuchend will ich mich seinem Griff entreißen, doch ich bin machtlos. Krampfhaft beiße ich mir auf die Unterlippe, als er meine zierliche Gestalt näher zu sich zieht, mir Sätze ins Gesicht schreit, die ich ungerne widergebe. Tränen brennen in meinen Augenwinkel, mein Herz rast unaufhörlich. Anstelle davon mich zu wehren, stehe ich lediglich da und hoffe auf fremde Hilfe. Jeder, der das Szenario erfasst, richtet den Blick gen Boden und eilt schnellen Schrittes davon, ohne mir überhaupt einen Blick zu würdigen.
In diesem Moment wird mir klar, wie schwach und feige ich bin. Nutzlos – das bezeichnet mich wohl am besten, zumindest dem Empfinden meiner Stiefmutter nach. Vielleicht behält sie recht, vielleicht tun sie das alle. Ich bin ein Schwächling, dem Niemand helfen will.
„Lassen Sie die junge Frau los!", dringt eine Jungenstimme durch den Straßenlärm zu mir hindurch, durchbricht die Mauer der Wortfetzen stark. Der Mann verstummt, dreht sich zu der mir bekannt vorkommende Stimme um. Aloysius steht da, mit eisernen Gesichtszügen und den Pfeilbogen in seiner Hand fest umklammert.
„Lassen Sie sie los", wiederholt er fest, sein kalter Blick und der Anblick der unübersehbaren Narbe lassen den Mann erschaudern. Er gehorcht ohne Wiederworte, wendet sich schweigend ab. Als hätte sein vorheriger Wutausbruch niemals existiert, setzt er seinen Weg fort. Verwundert folgen ihm meine Augen.
Aloysius tritt zu mir, legt mir zögerlich einen Arm um die Schulter. Rasch senke ich den Kopf, lasse mir die Haare wie ein Schleier ins Gesicht fallen.
„Alles okay?", erkundigt er sich, wobei er ehrlich besorgt klingt.
„Dankeschön", nuschle ich, in der Hoffnung, er wird meine Stimme nicht erkennen. „Du musst das Frühlingswunder sein."
„Ein Frühlingswunder also?" Im Augenwinkel erkenne ich sein niedliches Grinsen. „Es würde mir helfen, wenn ich wissen würde, was das ist." Er bringt mich zum Schmunzeln, wie ich ehrlich zugeben muss.
„Im Grunde genommen, ist der Frühling ein einziges Wunder. In keinem Monat erblüht so viel wie im Frühling. Er trägt Leben in sich." Mit den Haaren vor meinem Gesicht sehe ich zu ihm auf und bemerke seine gerunzelte Stirn. Bedauerlicherweise lässt er seinen Arm daraufhin sinken, seine Wärme schwindet.
„Leben ist für dich ein Wunder?", hakt er neugierig nach. Zögerlich schüttle ich den Kopf.
„Ein Wunder ist das Leben und Leben ist die Spur eines schönen Ereignisses oder einer erfreulichen Begegnung", erkläre ich unwillkürlich lächelnd. Nachdenklich nickt er, versteht allmählich.
„Da kann ich nur zustimmen, denn nicht jeder Mensch, der existiert, atmet." Zufrieden mit seiner eigenen Aussage nickt er erneut. „Aber wo wir schon bei Begegnungen sind, darf ich deinen Namen erfahren?"
„Ypsilon", sage ich ohne mit der Wimper zu zucken.
„Und ich dachte, ich hätte einen außergewöhnlichen Namen." Er lacht herzlich. „Nenn mich Loy."
„Leider muss ich gehen, Loy", merke ich kleinlaut an, wende mich danach rücksichtslos ab und tausche in der Menschenmenge unter.
Aloysius ist wie der Frühling, denke ich schmunzelnd, er steckt voller Wunder.
*
---
Dev's Note
Ich glaube, ich habe mich in Aloysius verliebt.
Mir ist bewusst, wie irrelevant diese Information ist, allerdings verspürte ich den Drang das loszuwerden. ^^'
GLG Lu~
DU LIEST GERADE
Mitternachtstanz [Cinderella Story]
Short Story„Wer lange genug zum Himmel blickt, wird alle Sterne funkeln sehen." Ein zaghaftes Lächeln schleicht sich auf meine Gesichtszüge. „Wir alle bergen ein ganzes Universum, doch jeder entscheidet für sich, wie lange man dieses betrachtet." Eine nicht ga...