Also dachte ich doch wieder nach. Über Philine, die Welt und mich. Also über Philines Welt und mich, um genauer zu sein. Nach der Abfuhr von Ria und dem kurzen Streit mit Philine war ich froh, endlich zu Hause zu sein. Meine Eltern waren draußen im Garten. Mein Vater mähte Rasen und meine Mutter suchte nach dem Unkraut in ihren Blumenbeeten. Früher hatte ich ihnen immer geholfen, aber inzwischen blieb durch die Schule nicht mehr viel Zeit.
Auch jetzt müsste ich eigentlich Hausaufgaben machen, stattdessen lag ich auf meinem Bett und starrte wieder einmal die Tapete an. Ich hörte über Kopfhörer leise Musik. Wie lange hatte ich das schon nicht mehr gemacht? Einfach rumliegen, Musik hören und sonst nichts weitermachen. An der Kante, wo zwei Bahnen aufeinanderstießen, war immer noch der Kleisterfleck zu sehen, der sich einfach nicht entfernen ließ.
Obwohl der Kleister doch nach dem Trocknen eigentlich unsichtbar werden und trotzdem die Tapete halten sollte. So machte der hellblaue Fleck das perfekte Muster der dunkelblauen Tapete kaputt. Perfekt, da hatten wir es wieder. Perfekt war nicht jeder. Es gab aber Menschen, von denen man es durchaus behaupten konnte. Stars und Sternchen und, leider Gottes, auch Eleonora, Adelina, Serafina und Viviana. Und Dion und Ria.
Es stimmte, wenn Philine sagte, dass viele zu ihnen aufsahen, weil ihnen scheinbar alles gelang. Damit grenzten sie sich deutlich zu anderen ab. Ich stellte es mir schwer vor, jeden Tag so perfekt zu sein. Sich immer entsprechend zu kleiden, ein gewisses Auftreten an den Tag zu legen und aufzupassen, dass man ja keinen Fehler machte. An sich kein schönes Leben, wenn man ständig darauf bedacht sein muss, nichts zu tun, was einem das Ansehen kosten könnte. Wenn es kippte und plötzlich alle auf einen heruntersahen, sich über einen lustig machten, dann konnte man eigentlich nur wegziehen und sich eine neue Identität besorgen.
Das klang zwar krass, aber so war es doch schließlich, oder? Man brauchte ja nur mal in die Klatschmagazine im Fernsehen reinzuschalten. Da beobachtet ein Paparazzo, wie ein Y-Prominenter eine Jogginghose im Discounter kauft. Großer Aufschrei, Shitstorm und der Y-Promi gerät in Erklärungsnot. Anders wäre es doch auch nicht, wenn Eleonora statt im schönen Kleidchen plötzlich in Jogginghose in die Schule käme. Die hämischen Kommentare möchte ich nicht hören, um ehrlich zu sein.
Perfekt zu sein, bedeutet Anstrengung. Aber hatte nicht jeder irgendwo seine kleinen Fehler und Makel? Ich konnte nachdenken, so lange wie ich wollte, bei Eleonora fiel mir keiner ein. Auch von Dion wusste ich nichts, was man als nicht perfekt bezeichnen konnte. Ich war mir nicht sicher, ob ich dem Druck standhalten würde, jeden Tag so wie Dion zu sein. Das musste ich ehrlich zugeben und in dem Moment war ich froh, nicht zu Eleonoras Schicht zu zählen, sondern lieber ein paar Macken mehr zu haben und damit zur breiten Mittelschicht zu zählen. Von Ria behauptete Philine aber, sie drohte, in die perfekte Welt hineingesogen zu werden.
Ria hing seit ihrem ersten Tag an unserer Schule nur bei Eleonora rum und seit diesem Zeitpunkt hatte sie sich optisch schon deutlich angepasst. Für die anderen war sie eine der wenigen, die es geschafft hatten, in Eleonoras Clique aufgenommen zu werden, was die Achtung anderer vor ihr noch einmal anstiegen ließ. Da würde es auch wieder welche geben, die sich das Maul zerreißen würden, wenn Ria plötzlich nicht mehr das machte, was Eleonora tat. Wer würde denn so doof sein und bei dem beliebtesten Mädchen der Schule in Missgunst zu fallen?
Plötzlich begann ich, Philine zu verstehen. Ria war auch in die High Society aufgestiegen, aber sie konnte ebenso schnell wieder abstürzen. Vielleicht hatte sich Philine etwas unverständlich ausgedrückt und mit ihrer Geschichte über die Parallelwelt deutlich übertrieben, aber die Kernaussagen, wenn ich sie so nennen konnte, waren richtig. Warum verstand ich das erst jetzt? Ria war nicht in Gefahr, weil sie eine schlimme Krankheit hatte oder Verbrecher hinter ihr her waren. Es war einfach die Gefahr, die von unserer Gesellschaft ausging.
Wir stürzten uns auf jedes kleine Ding, um uns darüber lustig zu machen. Vor allem, wenn es einen traf, zu dem wir eigentlich aufsahen, dann war das Geschrei noch größer. Mit jeder weiteren Sekunde, in der mir das bewusst war, wurde mir immer klarer, was Philine eigentlich von mir wollte. Sollte ich auf Ria aufpassen, um zu verhindern, dass sich, wenn es im Falle des Falles blöd lief, aller über sie lustig machten?
Das musste es sein. Philine hatte mir wahrscheinlich nie eine Geschichte erzählen wollen, sondern mich einfach nur davor gewarnt, was jedem in unserer Gesellschaft passieren könnte, vor allem denen, die ganz oben stehen. Nur ich war so dumm und hatte ihr unterstellt, dass sie mich anlügen würde.
Dass sie da nicht gerade verständnisvoll reagierte, war mir klar. Es war mir inzwischen peinlich, wie ich mich die ganze Zeit aufführte. Ich musste mich bei ihr entschuldigen. Vielleicht wusste sie noch mehr, was mir dabei helfen könnte, auf Ria aufzupassen. Denn ich zweifelte sehr daran, dass es ewig so weitergehen würde. Wenn Eleonora ein neues Spielzeug gefunden hatte, wurde das alte weggeworfen, egal, was daraus würde. Sollte es so kommen, würde ich es zu verhindern wissen.
Ich rappelte mich auf, nahm die Kopfhörer aus den Ohren und sah auf die Uhr. Es war kurz vor vier, vielleicht hatte ich noch Glück und traf Philine in der Schule noch an. Ich hätte auch nicht gewusst, wo sie wohnte, aber irgendwie wusste ich schon, dass ich sie dort noch erwischen konnte. Ich lief nach draußen und schnappte mir mein Fahrrad. „Wo willst du denn noch hin?", fragte mein Vater, der gerade den Rasenmäher vorbeischob. Mir der Fläche vor dem Haus war er gerade fertig, jetzt würde es wohl hinten im Garten weitergehen.
„Ich habe etwas in der Schule vergessen", sagte ich. „Dann beeil dich besser", meinte mein Vater nur. Ich hatte ihn ja nicht einmal angelogen. Ich hatte wirklich etwas in der Schule vergessen, nämlich mich bei Philine zu entschuldigen. Also trat ich in die Pedale.
DU LIEST GERADE
Schmutziges Konfetti
Novela JuvenilBewundernswert. Fehlerfrei. Makellos. Schön. Beliebt. Tadellos. Angesehen. Es ist so einfach, das Wort PERFEKT auszudrücken. Doch je öfter man über dieses Wort nachdenkt, je öfter man dieses Wort hinterfragt, desto mehr bekommt man von der Wel...