Sie wusste nicht, wie sie heraufgekommen war, aber sie fühlte sich wohl hier oben. Der Kronleuchter hing weit genug vom Erdboden entfernt und sie war froh, ihm entkommen zu sein. Sie saß zwischen den Streben, an deren Ende sich die Lampen befanden. Keine leuchtete mehr davon, aber dennoch hatte der Kronleuchter etwas an sich, dass sie sich besser fühlte. Er war ein Überbleibsel ihrer schönen perfekten Welt, die sie schmerzlich vermisste. Warum war es nur so weit gekommen?
Sie wollte es nicht akzeptieren, dass es ihre perfekte Welt nicht mehr gab und sie nicht mehr in sie zurückkonnte. Was sollte denn nun aus ihr werden? Sie schloss die Augen und versuchte, sich diese Welt wieder vor Augen zu rufen. Es gelang ihr nur kläglich, sich das vorzustellen. Sie redete sich ein, dass all das um sie herum gar nicht existierte, dass es nur ein Traum war, der am nächsten Morgen vorüber sein würde und sie sich wieder in ihrer perfekten Welt befand. Dem Ort und kein anderer, wo sie hingehörte.
Sie musste nur durchhalten, bis der Morgen kam und dieser Traum endlich vorbei wäre. Sie versuchte, die Nervosität, die sich in ihr ausbreitete, zu unterdrücken und redete sich ein, dass es wirklich nur ein Traum war, obwohl sie es besser wusste. Der Kronleuchter begann, leicht hin und her zu schwingen, während sie darinsaß. Sie lehnte sich an eine der Streben und ließ die Beine baumeln.
Nur nicht nach unten sehen, dann bekam sie nicht mit, wie nah der Erdboden wirklich war. Das Schaukeln machte es ihr einfacher, sich ihre Welt vorzustellen, es hatte etwas von Schwerelosigkeit, das Gefühl, über allem anderen zu schweben. Bald ist dieser schreckliche Traum vorbei, redete sie sich ein. Sie wusste genau, dass ihr Gesicht hässlich aussah, wegen der verlaufenen Schminke.
Ihr Kleid hatte noch immer den dunklen Fleck, den sie wahrscheinlich nie wieder herauskriegen würde und inzwischen zog sich auch ein ellenlanger Riss durch den Stoff. Sie blendete es aus und versank in ihren Gedanken. Die ersten Sonnenstrahlen traten durch das Fenster der Eingangshalle und trafen auf ihr Gesicht. Es tat gut, die Wärme zu spüren.
Endlich kam die Sonne zurück, der Morgen war nah und ihr Traum deswegen bald vorbei. Mehr und mehr Sonnenstrahlen trafen auf sie und ließen den Staub, der in der Luft umherschwirrte, leuchten. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis sie endlich aufwachen konnte. Inzwischen erleuchte die Sonne den gesamten Kronleuchter, dessen Glassteinchen funkelten.
Der Kronleuchter schaukelte sie inzwischen umher. Sie merkte nicht, wie die Verankerung an der Decke langsam herausriss. Sie war vollauf damit beschäftigt, sich einzureden, dass es ihre perfekte Welt immer noch gab und diese gebröckelte Fassade nur ein böser Traum war, den sie hoffentlich bald vergaß.
Ein Ruck ging durch den Kronleuchter, der sie aufschrecken ließ, während sie eine Handbreit nach unten sackte. Sie verlor den Halt der Strebe und rutschte ab. Sie versuchte, sich festzuhalten und ein stechender Schmerz durchfuhr sie, der ihr einen lauten Schrei entlockte. Der Traum war verschwunden und sie hatte viel zu lange gebraucht, um wieder zu sich zu kommen. Sie saß immer noch im rostenden Kronleuchter in diesem kaputten Haus und war nach wie vor ganz alleine.
Die Schmerzen ließen jedoch nicht nach. Ihr Herz pochte wie wild und ihr wurde schwindelig. Erst jetzt bemerkte sie die lange Wunde, die sich von ihrem Handgelenkt an über den ganzen Unterarm zog. Die Strebe hatte sie aufgerissen, als sie nach unten rutschte. Das warme rote Blut sickerte aus dem Schnitt heraus, unaufhaltbar und durchtränkte ihr Kleid oder tropfte nach unten auf den Boden.
Sie konnte erkennen, dass sich dort langsam eine Lache von ihrem eigenen Blut bildete. Ihr Blick wurde schwächer, sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen und schließlich lullte die Dunkelheit ein. Sie vertrieb das warme Sonnenlicht und all ihre Gedanken an die perfekte Welt. Der Schmerz wurde tauber und irgendwann spürte sie ihn nicht mehr, genau, wie sie auch alles andere nicht mehr spürte.
Nicht mehr, wie sie in sich zusammensackte und nur die dünnen Streben verhinderte, dass sie nach unten rutschte. Ihr Kopf drehte sich nach hinten, ihr Blick wanderte nach oben, ganz weit in die Ferne und der Glanz wich aus ihren Augen. Aus ihrer Wunde am Arm sickerte immer noch das Blut, nur langsamer jetzt, da sie schon viel zu viel verloren hatte.
Deswegen bekam sie auch nicht mehr mit, wie der Kronleuchter aus seiner Verankerung riss und nach unten sauste, wo er am Erdboden in tausende kleine Stücke zerbarst und dem Traum von der perfekten Welt ein für alle Mal ein Ende setzte.
***
Eine kleine Anmerkung von mir. Das war jetzt das letzte Kapitel dieser Art. Irgendwann in den nächsten Tagen wird noch der Epilog folgen. Und dann war es das, mit "Schmutziges Konfetti".
Hättet ihr Interesse daran, dass ich zu jedem dieser kursiven Kapitel am Ende noch einmal in einem Extra-Kapitel eine kleine Erklärung dazu schreibe?
Heute habe ich euch mal eine Live-Version des Liedes eingefügt. Dieses Outro find ich so dermaßen genial, wie sie da mit der Stimme arbeitet... das passt auch am besten zum Ende des Buches.
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Schmutziges Konfetti
Teen FictionBewundernswert. Fehlerfrei. Makellos. Schön. Beliebt. Tadellos. Angesehen. Es ist so einfach, das Wort PERFEKT auszudrücken. Doch je öfter man über dieses Wort nachdenkt, je öfter man dieses Wort hinterfragt, desto mehr bekommt man von der Wel...