-27- ESKALATION

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Der letzte Dienstag vor der ersten Wahlrunde stand an. Ria, Philine und Bennett absolvierten ihre Reden souverän, obwohl alle drei nicht viel Neues zu sagen hatten. Von diesem Punkt aus konnte ich noch nicht sagen, wer von den vier Kandidaten nun in die Endrunde kommen würde. Eleonora marschierte mit einem süffisanten Lächeln gen Rednerpult, kleine Karteikärtchen in der Hand.

„Nach meinen Vorrednern habt ihr es nun bald überstanden, uns mal wieder zuhören zu müssen", sagte sie in ihrer aufgesetzten Art. „Wisst ihr, was mir so durch den Kopf gegangen ist, als ich die Reden von Philine, Bennett und, äh, Ria gehört habe?" Sie drehte sich mit einem freundlichen Lachen im Gesicht zu den dreien um. „Alle drei haben sich wunderbare Ziele gesetzt. Ich bin mir sicher, dass sie diese als Schülersprecher auch gut umsetzen würden, aber wenn wir ehrlich sind, macht das die Situation doch kein bisschen besser." Die Schüler hielten aufgeregt den Atem an und ich sah, wie Philine die Fäuste ballte.

„Wir sind nach wie vor abhängig von unseren Lehrern", stellte Eleonora klar. „Wir gehen unter. Sollte Schule uns nicht etwas für das Leben lehren?" Leise stimmten die Schüler zu. Worauf wollte sie hinaus?, überlegte ich fieberhaft. „Wir sollen uns entfalten und entwickeln, aber die Realität sieht doch ganz anders aus. Wir kriegen Berge von Hausaufgaben, die Lehrpläne sind hoffnungslos überfrachtet, der Unterricht fällt ständig aus und da fragen wir uns noch, warum einige nicht mehr hinterherkommen und Probleme haben? Mit diesen Problemen werden wir auch noch alleine gelassen, da wir keinen wirklichen Ansprechpartner finden. Das muss gelöst werden! Jeder sollte dieselben Chancen haben, seinen Schulabschluss machen zu können und nicht wegen höherer Gewalt zurück zu bleiben. Unsere Probleme müssen offene Ohren finden, damit wir sie aus der Welt schaffen können und sie uns nicht noch weiter auszehren. Denn momentan sind wir von Entwicklung und Entfaltung noch sehr weit entfernt. Wie sollen wir denn unsere Stärken ausleben, wenn diese nicht richtig gefördert werden oder wenn es von vorn herein überhaupt keine entsprechenden Angebote gibt?"

Die anderen hingen förmlich an ihren Lippen, um ja kein Wort zu verpassen. Eleonora sprach mit lauter und klarer Stimme, voller Emotionen, als würde sie auf einer Bühne stehen und den Propheten geben. Vielleicht hielt sie sich auch für etwas Ähnliches. „Das kann nicht mehr so weitergehen, dass eine Bildungseinrichtung dafür sorgt, dass Jugendliche überhaupt keine Chancen haben, einen guten Start ins Leben hinzulegen. Der Druck, dem viele von uns ausgesetzt sind, sorgt doch dafür, dass diese mit einem für immer bleibenden Schaden ins Leben gehen, bevor es überhaupt richtig angefangen hat!"

„Eleonora? Das...", mischte sich Philine ein, aber mit einem entschuldigenden Lächeln drehte sich Eleonora zu ihr um. „Würdest du mich bitte ausreden lassen? Ich habe dich schließlich auch nicht unterbrochen." Sie wandte sich wieder ihrem Publikum zu. Philine lief rot an und warf wütende Blicke in Richtung Eleonora, die davon allerdings nichts mitbekam. „Wenn ihr wollt, dass wir diesen Druck in seinen Wurzeln bekämpfen, dann wählt mich am Freitag!" Ihre Stimme wurde immer lauter, immer euphorischer. „

Zusammen können wir dafür sorgen, dass jeder die Chancen hat, das Abitur nach dreizehn Jahren Schule zu erreichen und diese dreizehn Jahre eine Zeit sind, an die man sich gerne zurückerinnert, wegen der vielen schönen Erlebnisse und nicht, weil sie voll von Stress und Belastung war. Gleich könnt ihr euch bei Seraphina, Adelina und Viviana kleine Zettelchen abholen."

Sie deute auf ihre drei Helferinnen, die unten vor der Bühne standen und wie im Werbefernsehen breit lächelten. „Darauf schreibt ihr bitte eure Vorschläge, wie wir die Schule besser machen können. Ich verspreche euch, dass ich auf jeden Vorschlag eingehen werde. Einzige Voraussetzung ist, dass ihr mich dafür wählt. Am Freitag! Eure Stimme für Eleonora!" Den letzten Satz schrie sie förmlich vor Begeisterung. Sie verbeugte sich leicht und lauter Jubel brach aus, der nicht nur aus dem bisherigen Kreischen bestanden hatte. Eure Stimme für Eleonora.

Mir graute es davor und während ich die Schülermeute sah, die sich auf die drei mit ihren bunten Zettelchen stürzte, sah ich unsere Arbeit einstürzen wie ein Kartenhaus. Alles umsonst. Heute war die letzte Möglichkeit, noch einmal Werbung für sich zu machen und Eleonora hatte sie eindrucksvoll genutzt. Philine, Ria und Bennett schnappten wortlos ihre Sachen, Dion, Amon und ich folgten ihnen. Keiner beachtete uns, weil sich alle auf Eleonora und die Zettelchen stürzten. Eure Stimme für Eleonora.

Sie hatte alles, was wir in den letzten Wochen für Ria, Philine und Bennett erarbeitet hatten, in einen Topf geworfen. Sie hatte ihnen schließlich das zugerufen, was sie hören wollten.

Zwei Jungen stellten sich Bennett in den Weg. „Warum hört man sowas von dir nicht?", höhnte der eine. „Guck ihn dir an", ergänzte der andere. „Und den hätten wir fast gewählt." Er stieß Bennett zur Seite, als dieser an ihm vorbeilief. „Du Loser!" Er riss ihm einen Träger vom Rucksack von der Schulter. Bennett lief weiter. „Wichser", murmelte er vor sich hin.


„Lass sie in Ruhe!", sagte ich bestimmt und stellte mich zwischen Ria und Eleonora. Diese sah mich angeekelt an. „Halt dich da raus, Alessandro", fauchte sie. „Warum? Soll ich es ignorieren, dass du hier anderen drohst?", erwiderte ich wütend. Mein Respekt gegenüber Eleonora war gegen null gegangen, seit sie sich gestern diese Aktion geleistet hatte.

„Du unterstellst mir, dass ich anderen Drohe?", rief sie empört aus. „Pass auf! Wenn ich schreie, dann bist du hier ganz schnell weg." „Wag es dir und schreie", erwiderte ich. „Siehst du? Schon drohst du ihr!", pflichtete Seraphina bei. „Gewalt gegen Mädchen, dass du dich auf dieses Niveau begibst!" „Niveau war doch bei ihm schon lange keines mehr vorhanden", meinte Eleonora abwertend und musterte mich.

Ria schob mich zur Seite. „Lass gut sein, Alessandro", meinte sie. „Warum kann dich eigentlich nicht dein toller Dion verteidigen?", stichelte Viviana. „Siehst du ihn hier irgendwo?", fragte ich. „Dann würde ich mich ja mal fragen, ob er dich nicht doch nur zur Belustigung braucht", meinte Eleonora. „Die Achtundvierzig Stunden laufen ab jetzt. Dann hast du genau bis zum Beginn der Wahl am Freitag Zeit."

Damit lächelte sie uns noch einmal zuckersüß an, drehte sich um und im Gleichschritt Marsch schritt sie mit ihren Begleiterinnen von dannen. „Achtundvierzig Stunden?", fragte ich alarmiert und drehte mich zu Ria um. „Was. Verdammt. Ist. Hier. Los?" Ria war den Tränen nahe. „Ich soll die Kandidatur zurückziehen", wimmert sie. „Sonst was?", fragte ich energisch. „Sonst stellt sie das Video ins Internet", antwortete sie. Ich spüre, wie die Wut in der aufsteigt, aber ich weiß nicht, wohin damit.

„Beruhig dich", bat mich Ria. „Das hilft uns jetzt auch nicht weiter." „Aber dieses Biest weiterwurschteln lassen? Was willst du dir denn noch alles von ihr gefallen lassen?", erwiderte ich energisch. Ria antwortete nicht. „Sorry, war nicht so gemeint", entschuldigte ich mich im nächsten Moment. „Aber das darf doch alles nicht wahr sein." „Sie hat uns alle im Würgegriff", stellte Ria klar. „Die Fotos, die Adelina gehören doch schon dazu. Ein passender Kommentar und zusammenhangslos ins Internet damit."

„Von Philine und mir will sie angeblich auch explizites Material haben", erklärte ich. „Von euch?", fragte Ria mit großen Augen. „Ja", gab ich zu. „Aber ihr beiden hattet doch nicht...", erwidert Ria überrascht. „Nein, eben drum", sagte ich mit Nachdruck. „Ich weiß von nichts, was sie uns beiden falsch auslegen könnte. Aber allein, dass sie sagt, sie hätte etwas, und Eleonora macht gewiss keine leeren Drohungen, ist gefährlich, wenn wir nicht wissen, was es genau ist." Es klingelte und eigentlich müsste ich jetzt zwei Korridore weiter sein.

„Sie setzt alles daran, zu gewinnen und das wird sie", prophezeite Ria düster. „Nicht, solange wir uns nicht unterkriegen lassen", erwiderte ich. „Sie mag die Wahl mit fraghaften Mitteln gewinnen, aber über mich wird sie nicht siegen. Über uns wird sie nicht siegen. Das verspreche ich dir!"

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