1. Kapitel - Wie alles begann...

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Ich weinte. Der Schmerz war unerträglich. Ich konnte es nicht mehr aushalten. Ich hielt mir verzweifelt den Finger fest. Dann spürte ich die Arme von ihm um mich. Die Arme meines Bruders. Sie hielten mich fest und wiegten mich. „Was hast du denn, Prinzessin?", fragte seine ruhige Stimme. Ich weinte einfach weiter und zeigte ihm meinen Finger. Blut floss daraus. Kristian lachte leise und untersuchte den Finger genauer. „Deswegen hast du geweint, meine Kleine?", fragte er. Ich nickte, doch aufhören zu weinen wollte ich nicht. Ich wollte weiter von ihm gehalten werden. Mein ein und alles. Mein absoluter Lieblingsbruder. Er streichelte meine Haare und beruhigte mich. „Hör auf zu weinen. Schau mich an!", sagte er. Er stellte sich vor mich und sah mir eindringlich in die Augen, doch ich hielt meine Augen geschlossen und weinte weiter. „Schau mich an, Prinzessin!", forderte er wieder. Ich öffnete die Augen und sah die schönsten braunen Augen die man sich vorstellen konnte. Sie sahen besorgt und belustigt zugleich aus. Tränen liefen meine Wangen runter. Obwohl mein Finger nicht mehr wehtat weinte ich weiter. Er sollte nie wieder gehen, mein Bruder. Dann lachte er. Die Klänge waren wie Musik für meine Ohren. Sie waren so hell. So klar. Und das Lachen riss auch mich mit. Ich musste einfach mitlachen. Als wir uns beruhigt hatten sah er mir nochmal tief in die Augen.
„Alles gut, Prinzessin?" Ich nickte. „Siehst du? Alles ist gut! Ich bin ja da", sagte er.
„Wie hast du das denn angestellt?", fragte er. Ich wischte mir die restlichen Tränen von der Wange. „Ich fand die Rosen so hübsch und wollte eine für dich mitbringen, aber dann hat mich die Dorne verletzt!", sagte ich empört. Kristian lachte wieder.
„Der Dorn hat dich verletzt? Das ist aber nicht nett. Findest du nicht auch?" Ich nickte und beschimpfte den Dorn.
„Du böse, böse Dorne. Hast mein Geschenk kaputt gemacht! Das ist alles deine Schuld" Wieder ein Lachen von Kristian. Er ging zu dem Busch und pflückte zwei hellrosa Rosen. Eine gab er mir und eine behielt er. „So. Das ist unser Erkennungszeichen. Die Rose. Hellrosa Rose. Sie ist wunderschön, wie du, meine Prinzessin", sagte er. Ich umarmte ihn und flüsterte: „Du bist wunderschöner!" Er umarmte mich fester. „Dann, lass uns gehen. Mom macht sich bestimmt schon Sorgen." Und gemeinsam gingen wir den Weg zurück zum Haus.

Ich schreckte hoch. Ich japste nach Luft. Heiße Tränen liefen mir die Wange runter. Es war nur ein Traum. Nur ein verdammter Traum. Aus Frust weinte ich weiter. Wieder hatte ich von meinem Bruder geträumt. Und wieder ist er verschwunden, als ich aufgewacht bin. Mein Herz schmerzte. Der Scherbenhaufen namens Herz klimperte bei jeder Bewegung. Ich weinte und weinte. Wartete auf die Arme, die mich hielten, wie vor zehn Jahren. Doch es kamen keine Arme. Wieder blieb ich alleine in meinem Bett zurück. Verzweifelt umklammerte ich das Armband mit den hellrosa Rosen dran. Ich würde ihn nicht loslassen. Nicht meinem absoluten Lieblingsbruder. So wunderschön, wie du... Seine Worte gingen mir nicht aus dem Kopf. Als ich mich beruhigt hatte stand ich endlich auf. 7:07 Uhr zeigte die Uhr an meiner Zimmerwand an. Noch 53 Minuten bis Florian kam. Ich hatte noch genug Zeit. Langsam ging ich ins Bad. Im Spiegel sah ich verstrubbelte Haare und mittendrin ein verheultes Gesicht. Ich seufzte. Das würde ich niemals hinkriegen. Ich versuchte meine Haare glatt zu kämmen und hoffte dass bis dahin mein Gesicht die Röte und die verquollenen Augen verloren. Doch leider sah ich auch nachdem ich mich frisch gemacht hatte immer noch verquollen aus. Doch ich machte mir nichts draus und schlürfte, nachdem ich mich angezogen hatte, nach unten. In der Küche nahm ich mir einen Apfel, setzte mich auf einen Stuhl und weinte nochmal. Kristian ist vor zehn Jahren verschwunden. „Zeit heilt alle Wunden!", hat mal einer meiner Lieblingsautoren gesagt. Von wegen. Die Zeit hat alles schlimmer gemacht. Nachdem ein Loch in meiner Brust entstand, als Kristian verschwand, ist es nur noch größer geworden. Mein Herz ist ein Scherbenhaufen. Ich habe niemanden mehr außer meiner Mutter. Meine einzige Familie. Aber die ist ja nie da. Sie arbeitet seit Kristians Verschwinden nur noch mehr, um sich die Zeit zu vertreiben. Sie trauert, wie ich, immer noch. Doch anstatt mit mir darüber zu reden, verzieht sie sich im Krankenhaus, um nicht im Kummer zu versinken. Einmal habe ich sie abends, nachdem sie von der Arbeit gekommen ist, auf der Couch gesehen. Sie hat geweint. Damals war ich zehn. Ich bin zu ihr gegangen und habe gefragt was los sei. Sie hat mich angelächelt und gesagt, dass heute Kristians Geburtstag sei. Doch er würde nicht dabei sein. Dann ging ich wieder ins Bett und weinte. Ich war viele Monate beim Psychologen, doch danach ging es mir nicht besser. Ich bin höchstens noch mehr im Selbstmitleid versunken. Wenn ich mit einem Fremden, der meinen absoluten Lieblingsbruder nicht mal kannte, darüber sprechen sollte, weiß ich bei besten Willen nicht was das bringen soll. Ihm kann das doch egal sein. Bei ihm ist alles super. Nicht sein Bruder war spurlos verschwunden, sondern mein Bruder. Irgendwann hatte ich keine Lust mehr darauf und bin nicht mehr hingegangen. Mom fand das okay und so haben wir das Ganze abgebrochen. Für mich war das vollkommen okay. Ich fand diese Ganze Psychologen-Sache von Anfang an blöd. Der Psychologe kann meinen Bruder auch nicht wieder herbeizaubern oder so. Bei dieser grausigen Erinnerung war mir der Appetit vergangen. Ich rümpfte die Nase und legte den halb gegessenen Apfel auf den Tisch neben mir. Ich starrte das Armband an meinem Handgelenk an. Das war Kristians letztes Geschenk an mich. Eines Morgens, als ich aufgewacht bin, lag auf meinem Schreibtisch ein Zettel und auf ihm dieses Armband. Ich konnte die Worte auf dem Zettel schon auswendig. Ich hatte ihn über die Jahre aufbewahrt. Die Worte waren in Großbuchstaben geschrieben, weil ich zu dem Zeitpunkt erst sechs war und nur mit Großbuchstaben lesen konnte. Ich freute mich über das Armband, weil ich wusste dass es von Kristian war. Nur er würde mir ein Armband wie ein solches schenken. An den silbernen Kettchen waren ganz fein hellrosa Rosen eingeflochten. Es war das Schönste was ich je gesehen hatte. Als ich das Armband an meinem Handgelenk, damals noch etwas zu groß, begutachtet hatte, las ich den Zettel. Ich hatte die Worte schon so oft gelesen.

Meine Prinzessin,
ich hoffe dir gefällt mein Geschenk. Ich habe es ganz speziell für dich ausgesucht. Bitte bewahre es gut auf und versprich mir es immer, immer, immer zu tragen. Ich muss leider gehen. Doch sei nicht traurig. Lebe dein Leben so weiter wie du es auch davor getan hast. Ich hab gehofft, dass es anders kommt, aber es geht nicht anders. Du wirst es irgendwann verstehen. Ich verspreche es. Doch ich muss erstmal gehen. Ganz weit weg. Bitte suche nicht nach mir. Du wirst mich nicht finden, bis es an der Zeit ist mich zu finden. Ich muss jetzt los. Und denk dran: Trage jeden einzelnen Tag, ohne Ausnahme das Armband. Das ist meine letzte Bitte. Ich hab dich lieb.
Dein absoluter Lieblingsbruder

Und ich bin seiner Bitte gefolgt. Ich habe jeden einzelnen Tag, ohne Ausnahme, das Armband getragen. Ich trage es immer. Tag und Nacht. Als ich es zum ersten Mal abgelegt habe, habe ich mich so leer wie noch nie gefühlt. Schnell habe ich es wieder umgelegt und ich wusste, dass du er mir war. Und ich glaubte auch an seine Worte. Ich werde ihn finden, wenn er gefunden werden will. Ich habe nicht nach ihm gesucht. Ich bin still in meinem Zimmer geblieben, bis selbst die Polizei aufgegeben hat ihn zusuchen. Ich habe Mom gesagt, das er mir in dem Brief geschrieben hat, dass wir ihn nicht suchen sollen, doch sie wollte nicht auf mich hören. Sie hat die Polizei alarmiert und nach ihm suchen lassen. Doch er blieb spurlos verschwunden. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Das einzige was uns an ihn erinnert ist sein Zimmer, das bis dahin unverändert geblieben ist und mein Armband. Es ist zwar ein sehr kindliches Zimmer, weil er damals zwölf war als er verschwand, doch für mich war es ein Schatz. Wie oft hatten wir dort oben gespielt? Unzählige Male. Ein Klingeln riss mich aus meinen Gedanken. Ich zuckte kurz zusammen vor Schreck und ging dann zur Tür. Ich musste lächeln, weil ich genau wusste wer vor der Tür war. Ich machte die Tür auf und das Gesicht meines zweiten Lieblingsmenschen auf dieser Erde grinste mir entgegen. Unwillkürlich musste ich auch grinsen. Florian trat ein.
„Na? Gut geschlafen?", fragte er. Ich machte die Tür wieder zu und folgte ihm in die Küche. Er setzte sich auf einen Stuhl und blinzelte mich an. Die Sonne, die durch die Fenster schien, tanzte auf seinen blonden Haaren. „Und was wollen wir heute machen?", fragte ich ihn. Doch sein Blick verdüsterte sich. Er sah auf meinen halbgegessenen Apfel, der immer noch auf dem Tisch lag.
„Du hast wieder diesen Traum gehabt, nicht?", sagte er, statt mir zu antworten. Ich schaute betreten zur Seite und nickte. Flo kannte mich in und auswendig. Er war mein bester Freund. Er wusste als einziger von meinen Träumen und wusste auch als einziger, wie sehr sie mir zu schaffen machten.
„Hör zu. Kristian wusste was er tat, alser fortging. Er war reifer als andere Kinder in seinem Alter. Du wirst ihn wiedersehen. Das verspreche ich dir", sagte Flo. Ich schluckte. Flo hielt immer seine Versprechen. Und Kristian hatte es mir auch versprochen, als er den Zettel schrieb. Ich musste wohl darauf vertrauen und warten.
„So. Und was wir heute machen? Erstmal mache ich dir Frühstück. Und zwar ordentliches Frühstück. Und dann dachte ich, könnten wir mal wieder irgendwas zusammen backen. Das machst du doch so gerne", meinte Flo. Ich strahlte ihn an. Backen war einer meiner Hobbies. Es brachte mich auf andere Gedanken und zudem war das Ergebnis auch noch lecker. Flo lachte und machte sich an die Arbeit uns ein Frühstück zubereiten. Erst als alles aufgetischt war, merkte ich wie hungrig ich eigentlich war. Ich stopfte so viel in mich hinein, wie ich konnte und vergaß, wie so oft in Flos Gesellschaft, den Gedanken an Kristian. Auch das Backen machte sehr viel Spaß. Zum Schluss hatten wir drei Bleche Brownies gebacken. Zufrieden setzten wir uns auf die Couch und aßen unsere gebackenen Brownies. Schließlich schlief ich auf Flos Bauch ein. Ich hatte einen seltsamen Traum. Er war zwar kurz, aber ich konnte mich an jedes kleinste Detail erinnern. Ich lag immer noch auf Flos Bauch, doch dann kamen plötzlich zwei Männer hinein. Sie trugen seltsame Kleidung. An genaueres konnte ich mich nicht erinnern. Der eine Mann hatte schwarze Haare und sah ziemlich übellaunig aus. Der andere jedoch hatte helles, blondes Haar und grinste Flo entgegen. „Floriel. Es gibt schlechte Neuigkeiten", sagte der Mann mit den schwarzen Haaren grimmig. Flo setzte sich vorsichtig auf, gut darauf bedacht mich nicht aufzuwecken, denn ich schlief noch. Wieso kann ich das dann aber sehen? ,fragte ich mich im Traum. Doch das war gerade egal. Immerhin war es doch nur ein Traum.
„Was ist passiert?", fragte Flo besorgt. Kannte er die Männer? Wieso waren sie in meinem Haus?
„Milans Mutter liegt im Sterben. Wir befürchten das Milan den Thron früher besteigt, als gedacht", sagte der Mann mit den blonden Haaren. „Heißt das...", sagte Flo und schaute mich besorgt an. Er dachte wahrscheinlich dass nichts mitbekomme, aber das tat ich.
„Ja,das heißt es. Wir haben gehofft, dass es noch ein bisschen warten kann. Wir wollen sie doch auch nicht überfordern. König Kilian möchte das genauso wenig wie du, Florian. Sie ist doch erst sechszehn", sagte der blonde. Flo fuhr sich mit den Fingern durch die Haare.
„Na gut... ich werde ihr einen kleinen Einblickin unsere Welt verschaffen. Aber ich werde sie nicht überfordern. Das braucht sicher seine Zeit. Erwartet nichts von mir", sagte Flo. Dann wurde alles schwarz.

Vandora - Der Garten der ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt