12. Kapitel - Unbekannt

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„Und so etwas zieht Ihr an?", fragte Wella mich gerade. Sie stand schon eine gefühlte halbe Stunde in meinem begehbaren Kleiderschrank und betrachtete all meine Jeans und Hosen. Und natürlich die T-Shirts und Pullis. Zu den Kleidern würde sie später noch zurückgreifen, hatte sie mir gesagt. Hoffentlich aber nicht mehr heute. Wella war wirklich voll und ganz in ihrem Element. Schließlich kam sie mit zwei Jeans und T-Shirts raus. Sie wirkte etwas verlegen.
„Die sind ganz okay. Kann ich mir die ausleihen?", fragte sie vorsichtig. Ich nickte lächelnd. Ich hatte ungefähr zwanzig Stück von den Teilen. Von den hundert Kleidern in dem Schrank mal abgesehen.
„Cool. Danke!" Sie hängte sich die Klamotten über den Arm.
„Dann lass uns mal wieder in den Speisesaal gehen", sagte ich. Wella schaute nocheinmal wehmütig in meinen Schrank.
„Du kannst ein anderes Mal meinen Schrank auseinandernehmen", sagte ich leise lachend. Wella schaute mich überrascht an.
„Wirklich?"
„Warum nicht? Die Tür hierher steht dir jederzeit offen", sagte ich. Wella verbeugte sich.
„Vielen Dank, Prinzessin. Das ist mir eine große Ehre", sagte sie. Ich musste mich zusammenreißen, nicht das Gesicht zu verziehen.
„Wella... Weißt du ich mag diese Förmlichkeiten nicht so. Duze mich doch", bot ich an. Wella sah mich erschrocken an.
„Ja natürlich! Klar. Kein Problem. Weißt du was? Eigentlich hatte ich gar keine Lust auf dieses Treffen. Ich dachte du bist eine arrogante, verwöhnte Prinzessin, aber du bist echt nett. Und das sag ich nicht, um mich bei dir einzuschleimen. Du bist wirklich nett", sagte sie und strich verlegen den Stoff ihres Kleides glatt. Ich freute mich. Ich fand Wella nämlich auch sehr nett. Sie könnte die beste Freundin sein, die ich nie hatte. Ja, ich hatte noch nie eine beste Freundin. Ich habe mein ganzes Leben nur mit Flo rumgehangen. Er war der einzige Freund den ich jemals hatte. Irgendwie traurig, wenn man so drüber nachdachte, aber das hatte mich eigentlich noch nie gestört. Wir gingen zurück zum Speisesaal. Ich kannte den Weg schon ganz gut, auf dem Hinweg hatte ich mich einmal verlaufen, aber wir haben es ja schließlich doch geschafft. Dafür war der Rückweg von meinem Zimmer bis zum Speisesaal leichter. „Ich merke, dass es dir hier gefällt, aber trotzdem fehlt dir etwas. Was ist es?", fragte Wella plötzlich unvermittelt. Gute Frage. Ich wusste es nämlich selber nicht. Es war schön hier und irgendwie habe ich mich gleich heimisch hier gefühlt, so als ob nun das fehlende Puzzleteil in meinem Herzen geschlossen wurde. Doch dieses Puzzleteil war kaputt und rissig, weshalb es nicht ganz passte und noch einige kleine Lücken zu sehen waren. Ich bin froh, dass Kristian den Scherbenhaufen, der seit seinem Verschwinden da war, endlich zusammengesetzt hat, doch es war nicht perfekt. Es fehlte etwas. Ich wusste nicht was. Ich hatte schon überlegt, ob es vielleicht Mom wäre, doch das war es nicht. Mom ist bestimmt krank vor Sorge, aber sie wird es überleben. Mom und ich waren noch nie sehr gut ausgekommen, deshalb vermisste ich sie nicht sehr. Ich seufzte.
„Ich hab keine Ahnung. Ich fühle mich hier wohl, aber was fehlt weiß ich nicht. Eigentlich habe ich alles. Ich habe meinen Vater kennengelernt und endlich wieder Kristian wieder, aber...", ich ließ den Satz offen stehen. Wella musterte mich von der Seite. „Du magst diesen Kristian, nicht?", fragte sie skeptisch. Ich sah ihr in die Augen.
„Ja, ist was falsch daran, seinen Bruder zu mögen?" Sie schüttelte mit dem Kopf.
„Aber er ist ein Mensch. Ich weiß, das du eine Halb-Fee bist und damit auch halber Mensch, aber du hast auch Feenblut in dir. Sie verleiht dir große Macht. Und du gibst dich mit einem Menschenjungen ab", meinte sie abschätzig. Ich blinzelte verwirrt, bevor ich antworten konnte.
„Kristian gehört zu meiner Familie. Ich liebe ihn und wenn das jemanden stört, dann soll er doch bitte höchstpersönlich zu mir kommen und ich werde ihm die Meinung sagen. Kristian hat mir erzählt wie die Feen so ticken und ich weiß wie sehr er hier für Hochachtung kämpfen musste. Ich verstehe es einfach nicht. Kristian ist doch wie jeder andere. Was ist an Menschen so falsch?", fragte ich.
„Ach, Arabella. Du weißt nicht mal annähernd wie schrecklich Menschen doch sind. Du bist bei ihnen aufgewachsen, klar, dass du sie so toll findest, aber hier in Vandora läuft der Hase anders. Sagt man das so?", fragte sie unsicher. Ich nickte lachend.
„Wir mögen die Lebensweise von den Menschen. Wie sie sich immer wieder übertreffen und was Neues draus machen. Sie sind interessant und so anders als Feen. Doch sie sind blind. Sie sehen nicht wie sich das auf ihre Umwelt auswirkt. Sie sind Besessen von Macht und wollen immer mehr. Irgendwann wird ihre Welt zerstört sein. Du wirst jetzt sicher denken, dass das für uns doch egal sein kann, aber Vandora existiert nur, aufgrund der Menschen. Der Fantasie der Menschen. Durch sie ist das hier alles entstanden." Sie blieb stehen und deutete auf das Bodengroße Fenster. Ich konnte die schönen, grünen Bäume sehen, die hier und da beleuchtet wurden, weil es schon dunkel war. Ein sternenklarer Himmel und der Mond wunderschön leuchtend. Ich lächelte und merkte wie sich Wärme in meinem Herzen ausbreitete. Wella ging weiter. Ich blieb noch ein bisschen stehen, folgte ihr dann aber eilig.
„Wenn die Welt der Menschen also stirbt, sterben auch sie. Und damit ganz Vandora. Das letzte was wir sehen werden ist dann nur noch, wie alles grau wird und in sich zusammenfällt. Die Wesen sich langsam aber sicher auflösen. Wir wissen nicht genau was passieren wird, doch so oder so. Ohne die Sterblichen, kein Vandora. Verstehst du jetzt, wieso sie so schrecklich sind?", fragte Wella. Ich wollte nicht, dass das alles hier verloren ging. Und das alles nur wegen den Menschen!

Vandora - Der Garten der ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt