Zehn

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        Das, was ich nun als nächstes schreiben werde, könnte die meisten Unwahrheiten in diesem Buch beinhalten.

Denn ich frage mich oft, was du denkst und wie du fühlst. Eigentlich ist das im Moment alles, was mich interessiert. Ich stelle mir dich oft vor, wie du irgendwo bist und anfängst an mich zu denken. Vielleicht. Nur vielleicht.

Und ich habe eine ausgeprägte Fantasie, mein Freund. Also stelle ich mir vor, du würdest das hier denken:

Schon seit zehn Minuten starre ich auf das Bücherregal meiner Freundin. Sie, Michelle, hat nie wirklich viel gelesen. Ich weiß nicht einmal, ob sie überhaupt jemals ein Buch gelesen hat, das nichts mit der Schule zu tun hatte. Im untersten Regal, entdecke ich „Das Universum in der Nussschale".

„Sag mal", spreche ich Michelle an, die schon seit einer Stunde an ihrem Schreibtisch sitzt und auf ihren Laptop starrt, „liest du diese Bücher eigentlich?"

Michelle sieht mich mit gerunzelter Stirn an, als ich aufstehe und mich vor das Regal stelle. „Ob ich diese Bücher lese?", fragt sie.

„Ja." Ich knie mich hin und ziehe „Das Universum in der Nussschale" hervor. „Ich habe dich bisher noch nie mit einem Buch in der Hand gesehen, aber trotzdem hast du ein halbvolles Regal."

„Das sind die Bücher meiner Schwester." Michelle wendet sich wieder an ihren Laptop und sucht weiter nach einem Kinofilm für uns. „Außerdem ist das Regal nicht nur halbvoll, sondern komplett voll."

„Ich kenne vollere", murmle ich und mustere das dünne Buch in meiner Hand.

Dieses gottverdammte Buch hat oftmals für heftige Diskussionen gesorgt. Damals. Mit ihr. Sie liebte Stephen Hawkings und alles, womit er sich beschäftigte. Und als ich ihr irgendwann mal dieses Buch vom Flohmarkt kaufte, sprach sie von nichts anderem mehr.

„Oh man", stöhnt Michelle. „In diesem Scheißkino läuft nur Müll. Wollen wir nicht lieber mit den anderen in die Stadt?"

Es geht nicht anders, ich muss die Augen verdrehen. Seit geschlagenen zwei Tagen habe ich versucht, sie zu einem entspannten Kinoabend mit mir zu überreden, aber trotzdem spielt sie nicht mit. Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt nach einem Film sucht. Michelle war nie ein Freund von ruhigen Abenden. Sie braucht ständig viele Menschen um sich herum und die laute Musik. Und den Alkohol.

„Wir waren das letzte Mal vor einem Jahr im Kino", sage ich und blättere durch das Buch. „Außerdem bist du siebzehn und noch zu jung für Kneipen."

„Halt die Schnauze", lacht meine Freundin daraufhin. „Was guckst du dir da eigentlich an?"

„Nur irgendein Buch." Ich lege das Buch zurück ins Regal und seufze.

Es ist nicht, als würde ich ständig an sie denken. Nicht einmal ansatzweise. Nur noch selten taucht sie in meinem Kopf auf, aber wenn sie es tut, dann gnadenlos.

Oftmals sind es belanglose Dinge wie ein Buch, die mich an sie erinnern. Oder allgemein jedes Bücherregal, das ich sehe. Und wie immer jedes Bücherregal so leer scheint, im Gegensatz zu ihren. Ich erinnere mich, dass ihr Zimmer auf jeden unordentlich wirkte, weil alles durcheinander lag, aber niemand verstand, dass es einfach nur ihre Lektüren und Blöcke waren, für die sie kein Platz mehr hatte.

Ich hatte es ihr nie gesagt, aber ich mochte es, wie sie beschämt lachte, wenn ich sie auf ihre Unordnung aufmerksam machte. Natürlich tat ich es nur, wenn ich über eines ihrer Bücher stolperte, denn diese Art von Unordnung mochte ich am meisten in ihren Zimmer.

Mit einem sofort einsetzenden Kopfschmerz, lasse ich mich auf Michelles Bett fallen. In Michelles Zimmer ist alles ordentlich. Hier und da liegen Klamotten herum, ihr Schminktisch sieht am übelsten aus. Dort klebt alles und sowieso komme ich diesem Teil nicht näher als einen Meter. Sie schminkt sich nicht sonderlich viel, aber an den Wochenenden will sie immer besonders hübsch sein. Und dann legt sie los. Eigentlich hat sie es nicht nötig. Aber wenn ich so etwas Michelle sage, lacht sie mich aus. Komplimente wären nichts für sie, meint sie immer.

What I'd never tell youWo Geschichten leben. Entdecke jetzt