Zwölf

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Ich würde dich gerne fragen, ob du an das Schicksal glaubst. Du kennst mich heute nicht mehr, deswegen wirst du es nicht wissen, aber ich glaube daran. Zumindest wenn es um dich geht.

Denn vielleicht, nur vielleicht, hat das Schicksal uns getrennt, weil wir uns zur falschen Zeit getroffen haben. Wer weiß, vielleicht hätten wir damals mit sechzehn eine Beziehung geführt, die zur heutigen Zeit geendet hätte. Weil unsere jugendlichen Ichs zu stur waren, um weiterzumachen. Oder weil unsere jugendlichen Ichs nicht begreifen wollten, was wir alles hätten haben können.

Aber, weißt du, vielleicht hat das Schicksal uns auch getrennt, um uns ein zweites Mal treffen zu lassen. Damit wir sofort verstehen können, wie perfekt wir für den anderen sind. Damit wir erwachsener sind und wir uns nie wieder loslassen.

Vielleicht hat das Schicksal vor, uns „Schatz, ich bin zuhause" anstatt „Lust, dich heute mit mir zu treffen?" sagen zu lassen.

Oder „Willst du meine Frau werden?" anstatt „Willst du mit mir zusammen sein?"

Vielleicht auch „Liebling, ich bin endlich schwanger" anstatt „Bist du wirklich schon bereit für dein erstes Mal?"

Und vielleicht „Ich liebe dich für immer und ewig" anstatt „Es liegt nicht an dir, sondern an mir".

Ich vertraue darauf, dass das Schicksal uns nicht im Stich lässt. Es wird uns wieder zusammenführen, irgendwann. Irgendwann, vielleicht in zehn Jahren, wenn wir uns zufällig in das gleiche Taxi setzen oder uns in dem Café gegenüber der alten Bibliothek begegnen.

Vielleicht werden sich unsere Blicke treffen und wir werden uns sofort erkennen. Vielleicht habe ich bis dahin viele Jahre woanders gelebt, aber trotzdem würde ich deine blauen Augen immer wieder zwischen all den anderen herausfiltern können.

Gut möglich, dass du dann von der Kasse auf mich zukommst, nachdem du dir einen Kaffee gekauft hast und mich fragst: "Bist du's?"

Und ich lege meine Lektüre weg und antworte lächelnd: „Nur, wenn du es bist."

Dann, nur wenn das Schicksal es so will, dann fragst du mich, ob du dich zu mir setzen kannst, woraufhin wir stundenlang reden werden.

Ich werde dir dann vielleicht von meiner gescheiterten Beziehung erzählen und wie ich von Frankfurt abgehauen bin, weil ich Angst vor einer Hochzeit habe. Und du erzählst mir vielleicht, dass du dich erst vor kurzem von deiner Verlobten getrennt hast.

Ich frage dich zunächst, warum.

Und du sagst: „Irgendetwas hält mich immer zurück, wenn ich eine Frau mag."

„Wie meinst du das?"

„Ich liebe sie nicht."

„Du liebst sie nicht?"

„Nein. Ich hatte viele Freundinnen in den letzten Jahren, aber ich kann sie einfach nicht lieben."

Diese Antwort würde mich glücklich machen. Denn mir wird bewusst, mir ging es genauso. Jahrelang. Ich konnte nie einen Mann so lieben, wie ich dich geliebt habe.

Und in den nächsten Sekunden würden wir es spüren, während wir so an diesem alten Holztisch sitzen und bereits vier Stunden vergangen sind. Wir werden spüren, dass wir uns gefehlt haben. Dass es niemals jemand anderen für uns gab.

Wir werden uns erinnern, dass wir vor vielen, vielen Jahren mal sagten, wir würden warten. Auf das Schicksal. Vielleicht auf dieses Treffen. Denn wir werden älter sein, reifer, erwachsener und einfach weniger dumm.

Vielleicht werden wir an diesem Abend das erste Mal miteinander schlafen. Und noch einmal am nächsten Morgen. Eine Stunde danach noch einmal und eventuell wirst du mir zuflüstern, während du meinen Nacken küsst: "Ich glaube, ich weiß jetzt, was mich all die Jahre diese Frauen nicht lieben gelassen hat."

Vielleicht werden wir in Folge dessen auf ewig zusammen sein.

Aber, und das ist ziemlich schwer, nur wenn das Schicksal es so will. Und wenn du es willst.

Ich leide viel, wenn ich an dich denke. Ich leide viel, wenn du nicht da bist und auch, wenn du ganz in meiner Nähe stehst. Vor allem leide ich, wenn ich dich mit deiner Freundin sehe und sowieso, wenn dein Auto an mir vorbeifährt, wir uns aber nicht grüßen.

Es tut alles so schrecklich weh, aber ich kann dir eine Sache versprechen; dass mein Herz dein Herz niemals aufgeben wird.

Gott, klingt das nicht absolut grauenvoll?

Es klingt kitschig, total übertrieben und trieft von Melancholie. Aber so bin ich nun mal.

Außerdem habe ich Angst. Was, wenn es das Schicksal gar nicht gibt? Was, wenn ich an etwas festhalte, das ich schon vor drei Jahren hätte aufgeben sollen?

Und was, wenn ich niemals jemanden so wollen kann, wie ich dich will?

Ich verfalle momentan in diesem undefinierbaren Kummer. Es ist etwas zwischen Das Schicksal würde mich niemals im Stich lassen und Rede dir selbst nicht so viel Mist ein.

Aber ich will dich unbedingt wieder treffen, verstehst du das?

Ich will, dass wir uns stundenlang unterhalten, wir uns ansehen und dann dieser klitzekleine Moment passiert. Dieser Funkenschlag, der uns sagt: Ja. Ja, das hier ist nun eure zweite Chance. Lebt sie.

Ich will, dass du mich irgendwann ansiehst und mich fragst: „Glaubst du ans Schicksal?"

Damit ich antworten kann: „Ich tue es."

Und du mein Kopf zwischen deine großen Hände nimmst, deine blauen Augen tief in meine Blicken, dann sagst, bevor du mich küsst: „Ab heute tue ich es auch."

Ich will so vieles. Ich will, dass du mich nach meiner Karriere fragst und ich will, dass du mir gerne dabei zuhörst und weitere Fragen stellst. Ich will dich so gerne anfassen dürfen, weil dir ein Krümel des Kuchens am Mundwinkel hängt. Ich will deine tiefe Stimme hören, mit der du mir erzählst, dass das Verhältnis zwischen dir und deinem Vater besser geworden ist. Ich will endlich wieder, dass dein Geruch in meiner Nase kitzelt. Ich will, dass du mit jeder weiteren Stunde näher an mich heranrückst und irgendwann unsere Beine ineinander verhakt sind, ohne dass wir es merken.

Ach man, ich will sogar, dass wir streiten. Dass wir wild durch unsere gemeinsame Wohnung rennen und Dinge schreien wie „Du hast dich heute Abend benommen wie der letzte Vollidiot!" oder „Du weißt ganz genau, dass ich es hasse, wenn Max ständig hier auftaucht!" oder „Wenn du nicht sofort aufhörst, mich so anzuschreien, verschwinde ich!" oder „Mein Gott, du bist unerträglich!"

Doch dann, ja dann, werden wir uns lieben. Intensiv und lange. Einfach weil wir so sind. Weil wir wissen, wir gehören nun mal zusammen, wir können nicht ohne den anderen und ein Leben ohne den anderen, ist unmöglich. Das Schicksal wird auf unserer Seite stehen.

Ich bin so traurig, wenn ich an dich denke.

Denn ich sitze hier und schreibe. Über das Schicksal – das vielleicht nicht einmal existiert. Aber es ist das Einzige, woran ich festhalten kann.

Ich bin so traurig, meine verlorene Liebe. So, so traurig.

Davon werde ich dir berichten, wenn wir uns in zehn Jahren in dem Café gegenüber der alten Bibliothek begegnen und sich unsere Blicke treffen. Erst dann werde ich dir hiervon erzählen.

What I'd never tell youWo Geschichten leben. Entdecke jetzt