Kopfschuss

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Noch bevor Frost oder Korsak überhaupt reagieren konnte hatte Piers seine Kollegin zur Seite gezogen.
Im nächsten Moment standen alle von ihnen einige Schritte weiter auseinander und starrten auf den Platz, an dem Jane gerade noch gestanden hatte.
Von dort aus schlurfte jetzt nämlich die verschwundene Leiche auf sie zu. Eine tiefe Wunde im Unterarm, voll mit getrocknetem Blut, glasiger Blick und ein tiefes, kehliges, hungriges Stöhnen.
Ein wirklich klassischer Film-Zombie.
„Zurück!", befahl Piers und hob sein Gewehr höher.
Seinem Befehl folgend gingen die anderen auf Abstand und hielten ihre Pistolen vor sich.
Der Untote kam näher...


„Sagen Sie uns doch wenigstens, was denn jetzt mit ihm ist!"
„Das kann ich leider nicht."
„Wieso nicht?!"
„Wir wissen es selbst nicht, aber sobald meine Kollegen ihn gefunden haben kann ich eine Obduktion durchführen und danach wissen wir mehr."
Die Antwort stellte nicht alle zu 100% zufrieden, aber ihnen fielen auch keine Argumente mehr ein.

Ruhiger wurde es deswegen aber noch längst nicht, denn jetzt wurde gemutmaßt, wie es wohl weitergehen würde. Es kamen die verschiedensten Ideen auf.
Zum Beispiel könnte der Tote zu einem Zombie geworden sein und auch die anderen Ermittler beißen, die dann wiederum zu ihnen kommen würden und das ginge so weiter bis die gesamte Stadt stöhnend herum lief und sich gegenseitig auffraß. Andere sagten es gäbe keine Zombies und die Leiche wäre gestohlen worden – wofür auch immer. Und wieder andere sagten, er wäre gar nicht tot gewesen.
Dann hätte er von selbst verschwinden können, vielleicht auf der Suche nach Hilfe. Aber warum er dann nicht zu seinen Kollegen gegangen war, die direkt vor der Tür vom Saal gestanden und panisch nach ihren Handys gekramt hatten.
Das hätte er auf jeden Fall noch gehört, wenn er gar nicht tot war. Das machte diese Möglichkeit aber nur umso unwahrscheinlicher.

Maura hoffte, dass ihre Kollegen bald wiederkamen und Licht in die Sache bringen konnten; der Radau und die Panikmache gingen sogar ihr langsam aber sicher auf die Nerven.
Nach wie vor versuchte sie nach Kräften die Schauspieler zu beruhigen – und hoffte gleichzeitig nicht von eben diesen verarscht zu werden. Man konnte ja nie wissen...
Vielleicht hielten sie die Ermittler ja zum Narren, weil sie die eigentlichen Täter waren. Als Schauspieler fiel ihnen das bestimmt nicht sehr schwer.
Der Gedanke traf die Pathologin wie ein Geistesblitz und sie griff nach ihrem Handy um-
BAMM!


Alle erstarrten im Schock, als der Schuss fiel.
Der Knall war ohrenbetäubend laut gewesen, viel heftiger, als bei den Pistolen, die sie normalerweise abfeuerten.
Über das Piepen im Ohr hinweg war ein ekliges feuchtes Klatschen zu hören. Der Tote war auf dem Boden gelandet, aber der Grund für seinen aufgeplatzten Kopf war nicht das Aufschlagen auf dem kühlen Stein...

„Du hast ihn erschossen!", Jane fand als erste ihre Sprache wieder.
Frost wandte wenig später den Blick ab und schaute angewidert in die andere Richtung.
Auch Korsak verzog das Gesicht, schaute aber weiterhin auf den nun endgültig Toten: „Skrupellos abgeknallt... Das hatte ich von dir ehrlich gesagt nicht erwartet."
Der Kopf der Leiche war jetzt nichts weiter, als ein blutiges Püree auf Hirn, Haut und Haaren und alles was nicht darin vermischt war klebte weiter hinten auf dem Boden und an der Wand.
Widerlich.

„Hast du nicht?", fragte Piers in einem erstaunlich entspannten Ton, „Jetzt kann ich euch ja auch verraten, dass das hier mein eigentlicher Job ist."
„Was soll das denn heißen?!", fragte Jane aufgebracht.
Sie konnte noch nicht ganz fassen, was da gerade passiert war. Sie selbst hatte immer gelernt im Notfall auf die Brust zu schießen – größte Trefferchance – und eine 9mm Kugel richtete wohl kaum so viel Schaden an, wie das Gewehr das ihr neuer Partner benutzte. Außerdem hatte sie auch schon einmal gehört, dass selbst Scharfschützen immer auf Brust oder Rücken zielten, aus dem gleichen Grund.
Das Loch, das eine Pistole hinterließ, konnte durchaus tödlich sein, aber es war bei weitem nicht unanschaulich, wie das, was da vor ihr auf dem Boden lag.
Ihr wurde schlecht, als sie noch einmal hinsah und auch sie wandte nun den Blick ab.

„Das heißt", begann Piers ernst, „Dass die Special Operations Unit der BSAA nicht nur zum Einschätzen von Gefahren ausgebildet wird, sondern dass wir eigentlich dazu eingesetzt werden, diese biologischen Gefahren zu beseitigen."
„Und diese biologischen Gefahren... Sind so etwas wie das da?", brachte Frost hervor, als er sich wieder langsam zu seinen Kollegen drehte und zeigte auf den Toten.
„Richtig", bestätigte Piers, „Unter anderem so etwas wie das da... Aber der gehört noch den Harmlosen, wenn man so will. Mir ist schon ganz anderer Mist über den Weg gelaufen und ich hoffe euch ist klar, warum die Sache so gefährlich ist."
Es folgte stummes Nicken, dann ein Kommentar von Korsak: „Die Infektion wird über einen Biss übertragen, wie in Filmen?"
Piers seufzte: „Klischeehaft, aber wahr. Aber mit dem Blut oder anderen Körperflüssigkeiten solltet ihr auch nicht in Kontakt kommen."
„Wir müssen Maura Bescheid geben", befand Jane und machte sich, ohne sich noch einmal umzudrehen, auf den Weg zurück in den Saal.
Auch Frost mied den Anblick der Leiche, als er seiner Kollegin folgte.
Piers sah einmal zurück, dann zu Korsak. Sie nickten sich zu und auch der Älteste der Ermittler trat den Rückweg an.


„Jane! Was ist passiert?! Wer hat geschossen und wo ist Piers?", sprudelte Maura los, als sie ihre Freundin durch die Tür kommen sah, dicht gefolgt von Korsak und Frost.
„Wir haben den Toten gefunden", berichtete Jane, „Aber ich glaube das musst du dir selbst ansehen."
„Wir bleiben solange hier bei den Leuten und tun unsere Arbeit", meinte Frost.
Er wollte auf keinen Fall noch einmal zurück und sich die Leiche anschauen...
Da es Jane in diesem Fall einmal genau so ging, erbarmte sich Korsak der Pathologin den Weg zu zeigen.

Noch einmal durch die dunklen Flure, jedoch weniger aufmerksam, als beim ersten Mal und schon standen sie wieder in dem großen vollen Raum hinter der Bühne.
Dort wartete auch der Soldat noch auf sie, der sich nicht von der Stelle gerührt hatte.
Es roch stark nach Eisen, zusammen mit ein bisschen Verwesung, wie Maura fand, und als sie näher kam sah sie den unansehnlichen Grund dafür.
Selbst sie verzog nun angewidert das Gesicht.

Maura seufzte, als sie sich über den Toten beugte: „Musste es ein Kopfschuss sein?"
„Ja", antwortete Piers klar.
„Das erschwert die Obduktion. Abgesehen davon, dass jemand die Einzelteile dort drüben noch wieder einsammeln muss..."
„Es ging nicht anders. Es sei denn du hättest ihn ‚lebendig' auseinander nehmen wollen,a ber dann hätte er dich vermutlich gebissen."
Die Pathologin wusste noch nicht genau, was sie davon halten sollte und stand wieder auf.
Der Geruch war wirklich unangenehm, auch wenn ihr davon nicht direkt schlecht wurde. Viel wichtiger waren jetzt aber ein Leichenwagen, ein Team der Spurensicherung und eine ausführliche Erklärung.
Noch länger konnte der Soldat nicht verheimlichen, was hier wirklich los war und Maura nahm sich vor ihn auf dem Rückweg auszufragen. Jetzt, wo so etwas Einschlagendes passiert war, musste er schließlich mit der Sprache rausrücken. Bei einem herumlaufenden Toten konnte man durchaus eine Erklärung verlangen – besonders wenn es nötig war dessen Gehirn im halben Raum zu verteilen.

Maura zog ihr Handy aus der Tasche und benachrichtigte die Spurensicherung und einen Leichenwagen, während Piers und Korsak noch einmal durch den Raum gingen und auch in den hinteren Ecken nach Hinweisen und anderen Auffälligkeiten suchten. In den paar Minuten, bis die Spurensicherung eintraf fanden sie jedoch nichts Großartiges und ab dann überließen sie die Arbeit den Profis.


Es wurde Zeit zurück zum Präsidium zu fahren, auch wenn Jane und Frost noch nicht mit allen Befragungen durch waren. Die noch lebendigen Schauspieler sollten noch eine Vorladung erhalten, damit man mit ihnen einzeln im Verhörraum ein vernünftiges Gespräch führen konnte. Vielleicht hatten sie sich bis dahin auch wieder beruhigt und hätten brauchbarere Hinweise, als das panische Rufen und Fluchen, das vielstimmig durch den Saal gehallt war.

Nun saß man wieder im Auto. Maura bei Jane, Piers und Frost bei Korsak.
„Jetzt kann ich ihn doch nicht fragen", dachte Maura laut.
„Hm, was ist?", fragte Jane und schaltete das Radio aus.
„Eigentlich wollte ich Piers schon jetzt zu diesem Vorfall befragen, aber das muss ich dann wohl im Präsidium machen. Er scheint einiges mehr über diese Sache zu wissen, als wir. Und wenn ich mir schon die Leiche anschaue, dann könnte er mir ja wenigstens verraten, warum die noch einmal aufgestanden ist", erklärte Maura.
Jane stutze: „Nur dir? Mich hat dieser Typ angefallen! Wenn jemand eine Erklärung verdient hat, dann ja wohl ich."
„Komm doch gleich mit runter", schlug Maura vor.
Ihre Freundin nickte: „Die Befragungen fangen eh erst morgen an. Da können wir auch alle zuhören."


"Ich will ja nichts sagen, aber eure Leiche ist abgehauen."Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt