Nancy

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„Hier links?"
„Genau. Und dann in das Wohngebiet. Da ist übrigens verkehrsberuhigter Bereich."
„Alles klar. Welche Hausnummer?"
„16... Guck mal. Da vorne steht der Streifenwagen."
Piers parkte sein Auto direkt hinter dem Streifenwagen auf der markierten Parkfläche, schaltete den Motor ab und stieg aus. Frost bewunderte noch einen Moment lang still und für sich, wie schnell mit so einem Wagen durch den Stadtverkehr kam, wenn der richtige Fahrer hinterm Steuer saß, dann stieg auch er aus und folgte seinem Kollegen zur Haustür der Nummer 16.
Klingeln half nicht – wer hätte das gedacht.
„Boston Police! Tür öffnen!", rief Frost.
„Versuch's doch mal mit Sesam öffne dich", meinte Piers und verschränkte die Arme, „Jetzt tritt die Tür schon ein, hat doch keinen Zweck."
„Das hier ist kein Actionfilm, ich kann doch nicht einfach-"
Schreie.
„Ich kann doch."

Die Tür flog mit einem lauten Krachen aus den Angeln, landete im Flur und auf dem Boden verteilten sich hunderte kleiner Holzsplitter.
Piers pfiff anerkennend und folgte dann dem Detective, der mit gezogener Waffe die Wohnung stürmte. Den Schreien folgend gingen sie eilig hinunter in den Keller, stießen eine weitere Tür auf und noch bevor Frost reagieren konnte packte sein Kollege ihn am Arm und zog ihn zurück.
Die Hand schnappte nur knapp an seinem Gesicht vorbei. Erschrocken machte Frost einige Schritte nach hinten.
„Schieß!"
Ein lauter Knall. Treffer in die Brust, Blut lief aus der Wunde. Aber der Angreifer ließ nicht locker, rannte wieder auf sie zu.
Schockiert schoss der Detective noch mal, zwei Mal, drei Mal. Alles Treffer, jedoch alle in die Brust.
„Auf den Kopf!", rief Piers und griff nach Frosts Hand.
Er schob sie nach oben und Frost schoss erneut – wieder zwei Mal. Dieses Mal traf er das Kinn, dann die Wange und der Angreifer fiel endlich um.
Frost wollte die Waffe los lassen, also nahm Piers sie ihm ab. Er stellte sich vor seinen Partner und schaute in den Raum.
Vor ihm waren vier Menschen. Ein Polizeibeamter – den hatten sie erschossen, er lag reglos am Boden. Eine Frau mittleren Alters, sie stand mit vor Panik geweiteten Augen wie erstarrt mitten im Halbdunkel des Raumes. Und dann lagen neben ihr noch zwei Gestalten am Boden, die auch eine Polizeiuniform trugen. Sie sahen nicht mehr allzu lebendig aus. Kein Wunder, dass sie nicht zurückgekommen waren...


Es war alles ganz schnell gegangen. Während sie Nancy Coville festnehmen wollten hatten sich die vermeintlich toten Cops noch einmal stöhnend erhoben. Sie wurden allerdings schnell von dem Soldaten niedergestreckt.
„Gnadenlos...", murmelte Frost, als er die Handschellen um Nancys Gelenke zuschnappen ließ und sie zur Tür führte.
„Fahr du mit ihr zurück", meinte Piers, als sie wieder vor dem Haus in der Nachmittagssonne standen, „Ich halte hier die Stellung und pass auf, dass nicht noch mehr passiert."
Frosts Pistole wollte er so lange lieber bei sich behalten „für den Fall", aber dafür überließ er ihm seinen Autoschlüssel.
„Für den Fall?", hakte Frost nach, als er den Schlüssel entgegen nahm, „Du wolltest doch auch nur für den Fall mitkommen..."
„Du siehst, es war die richtige Entscheidung. Übrigens meinen ich den Fall, dass die Toten wieder aufstehen – so wie es schon zwei Mal passiert ist."
„Verstehe... Aber nachher will ich meine Pistole wiederhaben!"
„Natürlich. Und du, mach mir keine Macke in die Karre."
„Hatte ich nicht vor."


Piers gab Frost die Pistole zurück, als dieser mit Verstärkung wieder auftauchte. Es gab das volle Programm: Ein Haufen Polizeibeamter riegelte die Umgebung ab, Kranken- und Leichenwagen fuhren in ganzen Karawanen vor und die Spurensicherung nahm alles auseinander.
Frost und Piers mussten ihren Kollegen erklären, was passiert war. Frost stoppte allerdings, als der Brechreiz in ihm aufkam und an der Stelle setzte Piers ein.
„Wir haben die Beamten gefunden, die nicht zurückkamen, aber der Schrei, den wir gehört haben, kam von dieser Nancy. Sie war zugleich die einzige, die nicht infiziert war. Ich war gezwungen alle anderen zu erschießen..."
„Eine Schande", sagte Korsak leise, „Sie waren gute Cops und das ist ein echt mieses Ende."
Ein stilles Nicken und betroffene Blicke kamen von allen Detectives, die zugehört hatten.

„Meine Güte, ist alles ok bei euch?!", rief Maura, die gerade auf ihren abnormal hohen Schuhen auf die Gruppe zu stöckelte.
Sie hatte die Leichen begutachtet und zum Abtransport freigegeben und wollte nun ihren Kollegen aus der Mordkommission helfen.
„Ja ja, uns geht es gut. Nur das Übliche", sagte Jane mit Blick auf Frost.
„Achso... Oh, ich habe noch etwas gefunden, das dürfte euch interessieren!"
Mit diesen Worten holte Maura einen großen Beweismittelbeutel hervor. Darin befand sich die gestohlene Kleidung des ersten Opfers.
„Sie war also wirklich hier! Gut, dass wir sie wieder haben", meinte Korsak.
„Zeig her!", v erlange Piers und nahm der Pathologin den durchsichtigen Plastikbeutel ab. Genau nahm er die Kleidung unter die Lupe.
Irgendetwas glaubte er dort zu finden. Da war er wieder, der Gedankenfetzen. Jetzt kam er immer näher, mit jedem Stück Stoff, dass er sich anschaute wurde es greifbarer.
Dann hatte er es.
„Hier! Schaut mal!"
Alle kamen näher zu ihm, schauten genau, was er da hatte. Er hatte die Kleidung im Beutel so bewegt, dass man nun den Kragen des Hemdes sah, welches der erste Tote getragen hatte. Und daran waren zwei kleine Anstecknadeln befestigt, die man vorher völlig außer Acht gelassen hatte.
Die eine zeigte das dunkelblaue Logo des Theatervereins, dem er angehört hatte.
Und die andere...
„Von dem Verein habe ich ja noch nie gehört", gab Maura überrascht zu.
„Das ist kein Verein", sagte Piers wissend.
„Was denn dann?", fragte Frost, der sich wieder zu ihnen gesellt hatte.
„Der erste hier gehört zum Theater, aber der zweite, der hat nichts mit öffentlichen Gruppierungen zu tun. Den kenne ich vom Schwarzmarkt. Einige der Händler, die wir in letzter Zeit beschattet haben trugen dieses Abzeichen. Sie haben mit den Überbleibseln von Umbrellas Biowaffen gehandelt."
„Biowaffen", murmelte Jane, „Dann wissen wir jetzt, wo er sich infiziert hat! Er muss einer der Händler gewesen sein und hat einen Fehler gemacht. Oder einer der Kunden war unzufrieden mit der Ware... Vielleicht auch nur ein Unfall. Oder er wollte es mit Absicht auf diese Art verbreiten?"
Die Anzahl an Thesen wuchs mit jeder Minuten, aber um die meisten zu beweisen bräuchte man am besten Zeugen oder ein Geständnis...


Zurück im Büro setzten sich alle Beteiligten in eine Runde und überlegten, wie sie weiter vorgehen wollten. Dabei kamen einige Ideen zustande.
Die am häufigsten Wiederkehrende war den anderen Händlern einen Besuch abzustatten. Aber diese war auch äußerst Riskant und erforderte die meiste Planung. Eine weitere war es nur einen weiteren Händler ausfindig zu machen, ihn festzusetzen und auszufragen. Das war zwar einfacher, konnte aber auch gewaltig schief gehen.
Die restlichen Vorschläge fielen ähnlich aus und man kam nicht umher mindestens einen Händler vom Schwarzmarkt ausfindig zu machen.
Aber eine Strategie gab es noch nicht. Darüber wollte man noch eine Nacht schlafen. Es war sowieso schon spät...


"Ich will ja nichts sagen, aber eure Leiche ist abgehauen."Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt